Das Internet ist eine segensreiche Erfindung – weil so jedermann die brasilianische Fußball-Legende Pelé noch einmal bewundern kann.

Stuttgart - Heute ist kein guter Tag, um über die Risiken und Nebenwirkungen des Internets zu reden. Aus dringendem Anlass ist vielmehr der segensreiche Vorzug dieser Errungenschaft zu loben - im Kampf gegen die Vergänglichkeit.Ohne die Fundgrube des weltweiten Netzes könnten viele nichts mehr damit anfangen, dass Pelé 70 wird.

Für die alten Hasen unter uns, begünstigt durch die Gnade der frühen Geburt, ist das eine elektrisierende Nachricht, doch der jüngere Rest fragt sich im ersten Moment eher schulterzuckend: Ist das nicht dieser betagte Knabe, der für Viagra wirbt - und sich als alternder Streithansel über den Gartenzaun mit Maradona dauernd bekriegt, wer der Größere war? "Diego ist kein gutes Beispiel für die Jugend", sagt Pelé. "Wen interessiert noch, was Pelé sagt", sagt der Argentinier, "der gehört ins Museum."

Ja, dort wäre Pelé jetzt, bis zur Unkenntlichkeit verstaubt, wenn wir nicht das Internet hätten, das auf Knopfdruck das Rad der Zeit zurückdreht und uns in den vollen ästhetischen Genuss seines Ballzaubers bringt. Das Video » dauert nur acht Sekunden, aber danach weiß selbst der Jüngste und Ahnungsloseste, warum der Held jener magischen Szene von der Fifa zum Fußballer des Jahrhunderts und vom IOC zum Sportler des Jahrhunderts gekürt worden ist.

Von da an war Fußball mehr als ein Spiel auf Gras.


Acht Sekunden, und Pelé ist nicht mehr die alte, abstrakte Legende mit 70, sondern der 17-jährige Wunderknabe. Dass ein Kind das Endspiel einer Fußball-WM entscheidet, ist außergewöhnlich genug - aber das Verrückteste an jenem 29. Juni 1958 im Stockholmer Rasunda-Stadion war dieser Vorfall in der 55. Minute: Der Ball fliegt in den Strafraum, der Zauberknabe lässt ihn abtropfen von der Brust, schlängelt sich wie ein Aal am tapsigen Schweden Parling vorbei, jongliert ihn dem langen Gustavsson über den Scheitel, Drehung, Schuss, Tor. Von da an war Fußball mehr als ein Spiel auf Gras. Fußball, das war jetzt Pelé. Nach dem Abpfiff heulte er Rotz und Wasser. Doch reden wir nicht von Pelés Gefühlen, sondern von unseren.

Auch wir waren Kinder, der Zauberer hat uns überwältigt und zum Lachen gebracht, und wir haben ihn genossen wie das Glück, zur richtigen Zeit auf die Welt gekommen zu sein. Die Wunden des Krieges waren uns erspart geblieben, stattdessen jagten sich plötzlich die Wunder, das Wirtschaftswunder, das Wunder von Bern - und durch das Wunder der Technik und den Erwerb des ersten familiären Flimmerkastens kamen wir auch in den Genuss des achten Weltwunders: Pelé, 1958.

Der Strafraum war seine Varietébühne, in alten Schriften ist der sagenhafte Zauber durch die Geschichtsschreiber von 58 folgendermaßen überliefert: "So einen Fußball hatte man noch nie gesehen. Fußball wie Jazzmusik, aber ohne Noten, nur nach dem Ohr, mit dem Herz, dem Gefühl - die Zuschauer sperrten Mund und Augen auf." Der Ball klebte am Schienbein und an den Sohlen, nie sprang er ihm vom Fuß, diesem Wunderkind mit der Schuhgröße 38.

Sohn eines Tagelöhners und einer Wäscherin


Das waren die Latschen eines großen Kindes, und so spielte er auch - aus dem Bauch heraus. "Sogar der Ball bat Pelé um ein Autogramm", hat ein brasilianischer Radioreporter in jener Zeit behauptet, und selbst als deutscher Bub war man auf dem Bolzplatz gespalten: Jeder wollte Boss Rahn sein, aber vor allem Pelé: Seinen vollen Namen - Edson Arantes do Nascimento - ließen wir uns auf der Zunge zergehen, seinen Lebenslauf hätten wir vorwärts und rückwärts aufsagen können: Sohn eines Tagelöhners und einer Wäscherin, geboren in den Slums von Três Corações, mit 15 Profi beim FC Santos, mit 16 das erste Länderspieltor - und jetzt war er 17, und unsere Mütter mussten uns eine "10" aufs Turnleibchen nähen, spätestens nach der Zirkusnummer mit Parling und Gustavsson.

War Maradonas Tor gegen England bei der WM 86 noch toller? An circa sechs Briten ist er vorbeigetanzt, und die Statistiker streiten sich heute noch, ob das Solo 12,5 oder nur 11,3 Sekunden gedauert hat - aber so oder so: Pelé hat für sein Zaubertor nicht einmal acht gebraucht.

Alles in allem hat "O Rei", der König, 1284 Tore geschossen. Nach dem tausendsten, 1969 im Maracanã in Rio, ist minutenlang das Spiel unterbrochen worden, noch im tiefsten brasilianischen Regenwald wurden die Glocken geläutet, und die Regierung hat einen Feiertag ausgerufen und eine Sonderbriefmarke gedruckt. Ein Jahr später war Pelé bei seinem dritten WM-Sieg noch einmal die Krönung einer der Perfektion nahen Offensive mit Jairzinho, Gerson, Tostao und Rivelino.

Er zeigte die virtuosesten Tricks, schoss mit links und rechts, und bei seinem Kopfballtor im Finale sprang er höher als die italienischen Abwehrriesen. Er war Spielmacher und Sturmspitze und so vollkommen, dass Franz Beckenbauer ahnt: "Pelé hat den Fußball in einer Erstklassigkeit gespielt, die keiner mehr erreichen wird."

Der Kaiser hat über den König leicht reden


Der Kaiser hat über den König leicht reden. Er braucht dazu nicht das Fernsehen oder Youtube, er hatte das Vergnügen, mit dem Größten persönlich zu kombinieren, bei Cosmos in New York. Dort hat Pelé 1977 seinen Abschied gefeiert, und der guten Ordnung halber soll nicht unerwähnt bleiben, dass sein Leben danach nicht mehr ganz so rund wie der Ball war: Die eine oder andere Scheidung ist überliefert, zwei uneheliche Töchter sowie Sohn Edinho, der als Drogenhändler verhaftet wurde - und dass Pelé gerne mit dem Machtwort Gottes die Nationaltrainer kritisiert, stößt auch mitunter auf Widerstand. "Wenn er schweigt", soll Romario einmal gesagt haben, "ist er ein Poet" - ein Gedicht war Pelé aber auf jeden Fall als Fußballer.

Das Fernsehen ist, wir bleiben dabei, nur seinetwegen erfunden worden - aber vor allem das Internet, das mit seinen Videoschätzen bewirkt, dass seine Zauberstücke nicht plattgewalzt werden vom Rad der Zeit. Falls Sie sich zum Geburtstag des Größten heute etwas Schönes schenken wollen: einfach Youtube aufrufen - und in der Suchleiste "Pelé" eingeben.