Fußball mit Herz Zu Gast bei der schlechtesten Mannschaft Deutschlands

„Rascheplatz“ – halb Rasen, halb Asche Foto: Setzer/Setzer

Fünf Spiele, 81 Gegentore. Wenn es einen Gegenbegriff zur Weltmeisterschaft gibt, dann das hier: zu Gast bei der schlechtesten Mannschaft Deutschlands. Also, irgendwie.

„Rascheplatz“, sagt Marvin Rufer. Der 24-Jährige ist einer der Spieler in der zweiten Mannschaft des TUS 09 Rot-Weiß Frelenberg. Und dieser Platz, da sind sich alle einig, der ist einzigartig in Deutschland. Halb Asche, halb Rasen – inklusive stattlicher Unebenheiten, die eher Arbeitsbeschaffung für Orthopäden und Chirurgen als Fußballplatz sind. Teamkollege Malte Menninger (22) grinst und sagt: „Ganz klar, Heimvorteil!“

 

Den konnte der TUS Frelenberg II bislang allerdings kaum nutzen. Denn auch das hier ist deutschlandweit einzigartig: 81 Gegentore nach fünf Spielen, pro Spiel im Schnitt 16 Tore, stets zweistellig verloren und gleich 25 Stück gegen den SV 1910 Brachelen II kassiert. Selbst in der untersten Spielklasse, der Kreisliga D, Staffel 3, ist das eine Rekordbilanz. Keine Herrenmannschaft in Deutschland steht schlechter da als Frelenberg II. Malte Menninger feixt: „Dann ist unser Ziel jetzt erst mal, weniger als zehn Tore zu kassieren.“

„Holland Süd“

Frelenberg ist ein grob 3000 Menschen starker Stadtteil von Übach-Palenberg, Nordrhein-Westfalen, nur einen ambitionierten Steinwurf von den Niederlanden entfernt, im Kreis Heinsberg – deshalb steht HS auf den Autokennzeichen. „Holland Süd“, witzeln sie in den Nachbarkreisen.

Auf dem Sportplatz, dem Wurmtal-Stadion, ist die Stimmung am Sonntagmittag trotzdem super. Mütter, Kinder, leicht verkaterte Herren – das Dorf trifft sich bei gutem Wetter auf dem Sportplatz. Die erste Mannschaft spielt gerade. Eigentlich sollten die immer am Freitagabend ran, dann aber kamen der Ukraine-Krieg und die Stromrechnung: Flutlichtspiele sind zu teuer. Jetzt muss die erste Mannschaft bei Tageslicht vor der zweiten spielen.

Häme lässt hier keiner zu

„Hömma“, ruft Kalle Pusch (67), seit über 50 Jahren im Verein, den Spielern der zweiten Mannschaft zu. „Bei 100 Gegentoren gibt’s aber ’ne Fete! Wahrscheinlich können wir viermal feiern, bis die Saison vorbei ist.“ Und die Sache ist die: Eine Vereinslegende wie Pusch darf so etwas sagen. Lockere Flachsereien sind in Ordnung, Häme aber lässt hier keiner zu. Im Gegenteil: Falls jemand den Kern des Fußballs sucht, auf dem Dorf lebt er. Denn das hier ist Fußball in all seiner Romantik. Es riecht nach Schweiß, Bier, Mobilat, Rasen und finanzieller Schräglage.

Der Fußballabteilung des TUS Frelenberg fehlt’s streng genommen an fast allem. Der Platz ist ein Acker, die Umkleidekabinen zu eng, die Decke war schon vor dem Hochwasser 2021 undicht, die Flutlichtanlage ist ein antiquierter Stromfresser und das Sportheim, „Cafeteria“ genannt, ist auch baufällig. Herz und Leben aber gibt’s en masse. Mittlerweile spielen über 120 Kinder im Verein Fußball.

Vor etwas über einem Jahr haben ein paar erwachsene Jungs beschlossen, eine Mannschaft zu gründen – als Ergänzung zur ersten Mannschaft des Vereins. Die Hälfte der Spieler hat vorher noch nie gekickt und einfach nur Spaß am Fußball und am Vereinsleben. Quatsch machen, trinken, den Kopf von der Woche freibekommen, von der Scheidung oder eben von all dem, was derzeit auf jeden einprasselt.

Irgendwas ist immer. Meistens Arbeit.

„Frauenfußball war auch mal ein Thema“, erzählt Mathias Kaminski, ehrenamtlicher Leiter der Fußballabteilung. Und zu Beginn war auch der Zuspruch ordentlich, doch ein Trainings- oder Spielbetrieb war utopisch. Fast alle der Frauen arbeiten im Schichtbetrieb in der Region – meistens „Pflege, Krankenhaus und so“, sagt Kaminski.

Die zweite Mannschaft der Herren kennt das Problem ebenfalls: Selten sind alle Spieler anwesend, manche sind verletzt und irgendwas ist immer. Meistens Arbeit. Heute fehlt der Torhüter – „ist arbeiten irgendwo in Berlin“, sagt Michael Falk (27), eigentlich Innenverteidiger und nun eben Torhüter. Trainer Dirk Durczok (26) würde selbst gerne spielen – geht aber nicht: Knie.

Zwei lupenreine Kacktore

„Am Anfang halten wir eigentlich immer ganz gut mit“, sagt er. Und auch gegen die SG Union 94 Würm-Lindern, Tabellendritter, ist das so. Gleich zu Beginn einen Elfer verschossen, im Gegenzug das 0:1 eingefangen und nur einen unglücklichen Querpass später steht’s schon 0:2. Danach zwei lupenreine Kacktore, ein Elfer und kein Glück. „Leute, wir spielen guten Fußball. Nicht entmutigen lassen!“, ruft der Trainer von draußen rein.

Doch man kann zusehen, wie die Kräfte auf dem Feld langsam schwinden. „Mann, ey!“, sagt ein Zuschauer. „Morgen hamse wieder nix außer Muskelkater!“ Zur Halbzeit liegt Frelenberg mit sechs Toren zurück, obwohl sie kaum schlechter als ihre Gegner spielen. „Wie viel hamwa? Vier?“, fragt der Trainer. „Nee, sechs.“

Doch statt auseinanderzufallen, stemmt sich das Team gegen eine weitere Abreibung, spielt in der zweiten Hälfte sogar Chancen heraus. „Das Training macht sich langsam bemerkbar“, freut sich der Trainer. Drei doofe Tore später steht’s trotzdem 0:9. „Leute! Unter zehn bleiben! Das wäre so geil!“

Und weil das tatsächlich geil wäre, nehmen die Gefühle auch auf dem Platz überhand und – zack – Platzverweis. Frelenberg muss das Spiel in Unterzahl zu Ende bringen und die Chancen, „unter zehn“ zu bleiben, schwinden zunehmend. Einer der Ersatzspieler holt vor Aufregung eine neue Kiste Bier aus der Cafeteria.

„Hau den Ball weg!“ Nervöse Blicke auf die Uhr. „Pfeif ab, Schiri!“ Da liegt Herzinfarkt in der Luft – und dann die Sensation: Abpfiff, Endstand 0:9. Unter zehn. Geil. Bierdusche und Jubelgeschrei, das man noch in den Nachbargemeinden hören kann.

„Wahnsinn!“, ruft einer und schaut zu den etwas irritierten Gegnern rüber. „Da gewinnen sie 9:0 gegen uns und gehen trotzdem wie Verlierer vom Platz.“

Drei Wochen später wird endgültig Geschichte geschrieben: 2:1-Sieg im Kellerduell gegen Victoria Schalbruch, die andere Mannschaft, die noch nie gewonnen hat. Der TUS 09 Rot-Weiß Frelenberg II rückt in der Tabelle von Platz elf auf den vorletzten Platz. Von wegen „die schlechteste Mannschaft Deutschlands“. Das hier ist Fußball.

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