Der Bundestrainer Joachim Löw ruft den personellen Notstand aus. Beim Länderspiel gegen Argentinien ist kein einziger Weltmeister dabei – was die schönen Erinnerungen ein wenig trübt.

Dortmund - Gleich in der Cafeteria zum Dortmunder Fußballmuseum hängen vier prägende Jubelbilder der deutschen Fußballgeschichte. Es sind die Momentaufnahmen nach den gewonnenen WM-Titeln 1954, 1974, 1990 und 2014. Unweigerlich bleiben die Augen des Betrachters dabei beim letzten Farbfoto hängen, auf dem Bastian Schweinsteiger vor Erschöpfung auf den Rasen sinkt, Mario Götze fast teilnahmslos herumsteht, während André Schürrle bereits die Faust ballend auf die Knie fällt. Der Schnappschuss mit Schlusspfiff aus dem berühmten Maracanã zeigt zwei Argentinier als Kontrastfiguren, die wie Ritter der traurigen Gestalt herumstehen.

 

Schöne WM-Erinnerungen

Auch Bundestrainer Joachim Löw erinnert sich im Vorlauf auf das Länderspiel zwischen Deutschland gegen Argentinien (Mittwoch, 20.45 Uhr/RTL) an dieses Finale, „einen Kampf auf Biegen und Brechen“, wie er rückblickend sagt. Als Assistenztrainer hat er das WM-Viertelfinale 2006 auch im Kopf, dass gewonnene Elfmeterschießen gegen die Gauchos, „ein Spiel mit vielen Emotionen“. Als Meisterwerk stuft der Fußball-Ästhet gleichwohl das WM-Viertelfinale 2010 ein, als seine beschwingte Auswahl mit 4:0 triumphierte, „spielerisch total überlegen“. Besser ging es nicht.

Insgesamt führt der Gegner also durch erfolgreiche Etappen der Jogi-Ära. Nur in Testspielen“, berichtete Löw pflichtschuldig, „gab es die eine oder andere Niederlage.“ Aber wen interessiert das noch? Gut möglich, dass sich der 59-Jährige damit heute wieder trösten muss.

Selten wirkte seine Mannschaft so unfertig wie vor dem 23. deutsch-argentinischen Aufeinandertreffen, zu dem in Dortmund erst 41 000 Karten verkauft sind. Und viel mehr Zuschauer werden eingedenk einer arg heruntergeschraubten Erwartungshaltung auch nicht mehr dazukommen.

Gesamtlage ist angespannt und unerfreulich

„Die Gesamtlage ist angespannt und unerfreulich. Es sind schon sehr viele Ausfälle“, räumte der Bundestrainer ein. Tatsächlich summiert sich die Zahl der Ausfälle und Absagen auf 13 Spieler, nachdem Timo Werner wegen seinem grippalen Infekt erst heute anreist, Jonathan Tah wegen einer Erkältung und Ilkay Gündogan wegen leichter muskulärer Probleme passen müssen. Selbst hinter dem Einsatz von Dortmunds Kapitän Marco Reus (Knieprobleme) steht ein Fragezeichen. Eingespielte Abläufe dürfe keiner erwarten, kündigte Löw an. „So viele Absagen hat es selten oder noch nie gegeben.“

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Tatsächlich ist diese Personalmisere in seiner Amtszeit einmalig. Dokumentiert ist in diesem Jahrtausend nur ein schlimmerer Fall: Im März 2002 vor einem Testspiel gegen die USA in Rostock hatte es 14 Absagen gegeben. Der damalige Teamchef Rudi Völler hatte dereinst im Warnemünder Hof geunkt, er müsse mal sehen, „wer noch laufen kann“. Heraus kam übrigens ein beschwingter 4:2-Sieg. Ob das der Verlegenheitself im Herbst 2019 auch gelingt? Zwei Novizen dürfen sich auf ihr Länderspieldebüt freuen. Niklas Stark, 24, Defensivallrounder bei Hertha BSC, erhielt ebenso eine Einsatzgarantie wie Luca Waldschmidt, 23, stürmender Überflieger beim SC Freiburg. Stark zeige „starke und solide Leistungen in Berlin, Waldschmidt hat Löw gerade erst im Breisgau wieder aus erster Nähe beobachtet. Aber auch bei Nadiem Amiri (22/Bayer Leverkusen) oder den nachnominierten Suat Serdar (22/Schalke 04) und Robin Koch (23/SC Freiburg) ist ein Einsatz nicht unwahrscheinlich. Und weil Manuel Neuer absprachegemäß auf der Ersatzbank sitzt, wird erstmals kein Weltmeister mehr in der Startelf stehen. Die Kapitänsbinde wird vermutlich an den nachdrängenden Anführer Joshua Kimmich gehen.

Einspielen ist nicht möglich

Das ausgedünnte Aufgebot hat freilich seine schönen Planspiele, die mit diesem an sich prestigeträchtigen Freundschaftsspiel verknüpft waren, fortgespült wie ein plötzliches Hochwasser die Picknickdecke. „Das macht die Sache im Hinblick auf 2020 schon ein bisschen schwieriger. Wir hätten das Jahr schon nutzen wollen, um uns vorzubereiten, einzuspielen. Das werden wir jetzt nicht können“, klagte der Bundestrainer, der sogar von einem „Bruch“ sprach, den es nach der Sommerpause gegeben habe. Möglicherweise sogar mit Nachwirkungen bis in den EM-Sommer 2020 hinein. Der Südbadener wähnte sich auf dem Weg der Erneuerung nämlich schon weiter.

Niemand ist noch wie Anfang der 2000er-Jahre zu unterstellen, dass er harmlose Blessuren vortäuscht, weshalb der Fußballlehrer die Verletzungsanfälligkeit in dieser frühen Saisonphase mit einer grundsätzlichen Mahnung verknüpfte: „Wenn ich höre, dass die Club-WM oder andere Wettbewerbe aufgebläht werden, erweitert werden, neu geschaffen werden, finde ich das nicht förderlich für die Qualität des Fußballs. Die Spieler sind körperlich absolut am Limit angelangt.“ Die Verbände sollten endlich besinnen: „Man sollte von den Leuten, die Entscheidungen fällen, erwarten, dass sie in die Zukunft schauen und die Qualität erhalten.“ Sonst führe es noch dazu, formulierte Löw überspitzt, dass die Topprofis bald nur noch „zwei, drei Jahre“ auf höchstem Niveau spielen könnten.