Die Équipe Tricolore jubelt, die Australier ärgern sich: Die WM-Premiere des Videobeweises glückt, weil die Fifa ihre Vorarbeiten offenbar besser erledigt hat als die Bundesliga, aber die Diskussionen verstummen deswegen nicht.

Moskau - Die Videobeweis-Premiere einer WM lag schon anderthalb Stunden hinter allen Protagonisten, da hatte sich Mathew Ryan immer noch nicht beruhigt. Reportern aller Kontinente diktierte Australiens Nationaltorwart ein Argument in die Aufnahmegeräte, auf das noch nicht viele gekommen waren. „Wir Spieler können eine Szene auch nicht zurückholen und noch mal spielen – so gerne wir das tun würden“, sagte der bei Brighton & Hove Albion angestellte Ballfänger. Kollege Loris Karius würde vermutlich sehr, sehr viel geben, hätte Liverpools Schlussmann vor drei Wochen im Champions-League-Finale einen Abwurf und eine Fangaktion derart ungeschehen machen können.

 

Daran dürfte der Keeper aus der Premier League zwar nicht gedacht habe, als der 26-Jährige nach dem 1:2 gegen Frankreich den grundsätzlichen Ansatz des technischen Fortschritts infrage stellte. Gleichwohl wirkte sein Gedanke ein wenig nachvollziehbar: Schiedsrichter Andrés Cunha aus Uruguay hatte in Echtzeit nämlich die Szene laufen lassen, in der der australische Verteidiger Joshua Risdon das lange Beine gegen den Franzosen Antoine Griezmann ausfuhr. Ball oder Gegner getroffen? Ob dieser Unklarheit griff am Samstag erstmals ein vierköpfiges Team von Videoassistenten (VAR) unter der Leitung des Argentiniers Mauro Vigliano aus dem Moskauer Kontrollraum ein.

Griezmann freut sich über „eine gute Sache“

Im fast 1100 Kilometer entfernten Kasan bekam Cunha dank voll funktionsfähiger Glasfasertechnik ein Signal übermittelt, eilte in seine Kontrollzone, studierte die Slow-Motion-Einstellungen und erkannte, dass der Fuß von Griezmann leicht touchiert worden war. Der narzisstisch veranlagte Millionenmann von Atletico Madrid verwandelte selbst zum 1:0 (58.). Klar, dass sich „Grizou“ freute: „Zum Glück war das System da. Eine gute Sache.“

Wie fast auf den Tag genau vor vier Jahren avancierten die Franzosen zu ersten Profiteuren vom Pilotprojekt: Am 15. Juni 2014 ging ein 3:0-Auftaktsieg im brasilianischen Porto Alegre gegen Honduras ja deshalb ins WM-Geschichtsbuch ein, weil erstmals die Torlinientechnologie anzeigte, dass Honduras‘ Torhüter Noel Valladares beim 2:0 ein Eigentor unterlaufen war. Mittlerweile ist diese Form der Entscheidungsfindung so unstrittig, dass über ihren Einsatz beim Treffer zum 2:1 von Paul Pogba (81.), der nachträglich als Eigentor gewertet wurde, kaum jemand mehr debattierte.

Der Videobeweis wird sich binnen einer WM-Dekade eine solche Akzeptanz nicht erarbeiten, weil er trotz der Beschränkung auf Torerzielung, Strafstoß, Rote Karte und Spielerverwechslungen stets mehr Ermessensspielraum bieten wird. Und so werden immer solche Klagen aufkommen, wie sie Bert van Marwijk vortrug. Den australischen Nationaltrainer beschlich schon ein ungutes Gefühl, als der Referee in die Review-Arena schritt: „Als ich ihn da stehen gesehen habe, hat mir seine Körpersprache gezeigt, dass er unsicher war. Ich habe gehofft, dass es vielleicht mal einen ehrlichen Referee gibt, wenn er zum Bildschirm geht. Es ist schwierig mit 50 000 Menschen im Rücken eine Entscheidung treffen.“ Sein Urteil: „Wir haben noch eine Menge über das VAR-System zu lernen.“ Auch der 66-Jährige selbst.

Zwayer gehört zur VAR-Eingreiftruppe

Denn gleich im nächsten Spiel zwischen Peru und Dänemark (0:1) zeigten sich die Vorteile: Der Däne Yussuf Poulsen zog dem Peruaner Christian Cueva das Standbein weg, was Schiedsrichter Papa Bakary Gassama aus Gambia nicht erkannte, wohl aber die aufmerksame VAR-Eingreiftruppe um den deutschen Chef Felix Zwayer. Der Berliner gehört zu jenen 13 Schiedsrichtern, die ausschließlich als Video-Spieloffizielle tätig sind und sogar vom dänischen Trainer Age Hareide gelobt wurde. „Der Videobeweis macht für den Referee das Leben leichter.“

Zwayer saß übrigens, wie Fifa-Schiedsrichterchef Pierluigi Collina erklärte, in sportiver Schiri-Kluft im Sendezentrum: „Wir machen das, weil sie genauso schwitzen wie auf dem Platz. Es ist nicht so, als würden sie das Spiel auf der Couch folgen, während sie Kaffee trinken.“ Offenbar hat Collinas Kommission die Vorarbeiten unter Projektleiter Robert Rosetti besser erledigt als die Bundesliga unter dem abgelösten Hellmut Krug. Die Aufgabenverteilung zwischen den vier Videoassistenten ist transparent kommuniziert. Chaotische Züge nahm die deutsche Pilotphase am Anfang vor allem deswegen an, weil die aus Köln agierende Kontrollinstanz sich als eilfertiges Korrektiv begriff, in der lange nicht klar war, wer vor den Bildschirmen das Sagen hat.

Aktionismus soll vermieden werden

Bei der WM soll jeder auffällige Aktionismus vermieden werden. Motto: Lieber einmal zu wenig einschreiten als einmal zu viel. Insofern kam in der Tatarenstadt zwar eine diskussionswürdige Premiere, nicht aber himmelschreiendes Unrecht zur Aufführung. Pragmatiker van Marwijk fasste zusammen: „Von zehn Leuten sagen sieben, es war Elfmeter; drei, es war keiner.“ Sein Keeper Ryan wird weiter sagen: Bleibt mir weg damit. Insofern hat er es aber mit seinem Arbeitgeber gut getroffen: Der Videobeweis bleibt im englischen Fußball vorerst auf die Erprobung im FA-Cup beschränkt. So kann auch abgewartet werden, was bei der WM noch besprochen werden muss. Fortsetzung folgt garantiert.