Wer ist dieser Mann, über den Fußball-Deutschland nicht erst seit der Erdogan-Affäre diskutiert wie über keinen anderen?

Sport: Marco Seliger (sem)

Moskau - Manchmal im Leben muss man ziemlich weit reisen, um irgendwie wieder bei sich anzukommen. Um sich heimisch zu fühlen. Um loslassen zu können. Um einfach das zu tun, was einem Spaß macht und was man bestens kann. Kicken. Einfach nur kicken.

 

Der Trainingsplatz von ZSKA Moskau wirkt wie eine bessere Bezirkssportanlage, es gibt eine kleine Tribüne mit vier roten Sitzreihen, eine Laufbahn – und drum herum dominiert Grün. Bäume, Wald. Überall. Alles unspektakulär. Und doch so essenziell. Denn der Rasen auf dem Platz ist sattgrün und genau richtig gewässert, genauso, wie es Fußballer haben wollen. Es gibt ein paar Kollegen, mit denen man vor der Einheit den Ball hochhalten und ein paar Späße machen kann. An den Ohren zwicken, wenn dem anderen mal die Kugel runterfällt, solche Dinge. Mesut Özil ist auf dem WM-Trainingsgelände der Nationalelf in Watutinki angekommen in seiner Welt. Oder soll man sagen: in seiner Blase?

Özil, das Mysterium

Mesut Özil, das Mysterium. Wer ist dieser Mann, über den Fußballdeutschland nicht erst seit der Affäre mit dem umstrittenen Foto, das ihn mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zeigt, heftig diskutiert. Özil spaltet die Menschen – aber warum ist das so?

In Russland, weit weg also, fühlt sich Özil gerade daheim. Weil er den Ball um sich herum hat und nicht so viele neugierige Blicke samt der Erdogan-Debatte wie in Deutschland. Seiner Heimat.

Der Sohn türkischer Einwanderer wuchs im Gelsenkirchener Stadtteil Bismarck auf. Seine fußballerischen Anfänge erlebte er im Affenkäfig an der Olgastraße im Stadtteil Bulmke. Die harte Technikschule. Gitter drum herum, zwei Tore, Ball in die Mitte, und los. Durchsetzen, spielen, tricksen, kämpfen.

Özil, der Multimillionär, der über den FC Schalke 04, Werder Bremen und Real Madrid vor fünf Jahren zum FC Arsenal kam und dort einen Vertrag bis 2021 hat, ist auch deshalb immer ein Gelsenkirchener Junge geblieben. Und zugleich einer, der stolz ist auf seine türkischen Wurzeln.

Wie stolz, das zeigt schon das Foto mit Erdogan. Oder doch nicht? War die Aktion stattdessen einfach nur dumm und naiv, ohne einen wirklichen Hintergedanken? Mesut Özil schweigt. Und allein das – seine Herkunft, seine Geschichte, jetzt das Schweigen – bietet genügend Stoff für Diskussionen. Für Spekulationen. Für Debatten. Auch für rechte Hohlköpfe, die in Özil ihr Kernproblem in der DFB-Elf sehen. Ein deutscher Nationalspieler, der sich irgendwie immer noch zur Türkei bekennt. Und der die Hymne nicht mitsingt.

Der Bundestrainer als Vertrauenslehrer

Özils Kritiker, die manchmal auch zu Hetzern werden, vergessen in dieser Debatte, dass der Spielmacher die große Konstante unter dem Bundestrainer Joachim Löw ist. Mesut Özil ist so etwas wie die Symbolfigur für den intelligenten, für den spielerisch leichten, für den technisch filigranen Stil der Nationalelf des Joachim Löw. Rumpelfußball war gestern. Özil (29) ist heute. Und vielleicht auch noch morgen.

Der Spielmacher schafft es wie kaum ein anderer, mit kleinen Pässen, mit kleinen Drehungen auf engstem Raum gegnerische Abwehrreihen auszuhebeln. Doch auch hier gibt es ihn wieder, den viel diskutierten Widerspruch bei Özil. In großen Spielen, heißt es gerne, sei er nie da. Nicht zu sehen. Gegen die Kleinen kann ja jeder glänzen, heißt es dann. Tatsächlich tauchte Özil oft unter, vor allem bei der WM 2014. In den vergangenen Jahren aber hat Özil auch den Kampf in sein Repertoire aufgenommen. Bei der EM in Frankreich etwa zeigte er es seinen Kritikern: Im Viertelfinale gegen Italien und im Halbfinale gegen Frankreich war er auch dann noch zu sehen, als es zäh wurde. So will Mesut Özil nun auch bei der WM in Russland auftreten. Wenn er es denn darf.

Vor dem ersten Gruppenspiel an diesem Sonntag in Moskau gegen Mexiko (17 Uhr) wollte sich Löw noch nicht auf Özils Einsatz festlegen. Zuletzt pausierte er aufgrund einer Knieprellung, jetzt trainiert er wieder voll mit. Und klar, der Fall Erdogan und die Pfiffe einiger deutscher Fans sind immer noch präsent. Womöglich auch in Löws Gedanken bei der Aufstellung.

Özil schweigt. Lange und gerne.

Wenn einer Özil gerade in schweren Zeiten aber nicht fallen lässt, dann ist das der Bundestrainer. Bedingungslos setzt Löw im Normalfall auf Özil. Und umgekehrt. Wäre der Profifußballzirkus eine große Schule, dann wäre Herr Löw der Vertrauenslehrer des Schülers Özil. Dass die beiden in der wahren Welt dieselbe Beraterfirma beschäftigen, steht auf einem anderen Papier. Und ist Wasser auf die Mühlen jener Kritiker, die in der Sache nicht nur ein Gschmäckle sehen, sondern von Vetternwirtschaft sprechen. Auch hier gibt es bei Mesut Özil also wieder: Debatten. Und reichlich Stoff dafür. Dabei wäre es eigentlich ein Leichtes für Özil, in all diesen Dingen – sei es im Fall Erdogan, sei es bei seiner Spielweise, sei es beim Berater – selbst Licht ins Dunkel zu bringen und für Aufklärung zu sorgen.

Mesut Özil aber schweigt. Lange und gerne. Der öffentliche Auftritt ist nicht sein Ding. Das mag womöglich immer auch an einer gewissen Unlust liegen – aber vielleicht auch an einer gesunden Selbsteinschätzung. Rhetorisch halten Özils Fähigkeiten kaum Schritt mit jenen auf dem Fußballplatz, ein eloquenter, tiefsinniger Repräsentant ist er nicht. Auch in diesem Punkt gibt es also wieder: Widerspruch.

Dabei ist ja genau dieser Özil im Internet der populärste deutsche Fußballstar. Bei Facebook folgen ihm mehr als 31 Millionen Fans, bei Instagram sind es gut 16 Millionen. Seine Erfolge, seine Spielweise und seine spannende Vita haben ihn so populär gemacht. Und womöglich hat auch sein Schweigen einen Teil dazu beigetragen. Denn Özils Verhalten ist das eines Superstars der heutigen Zeit. Nichts sagen, sich rar machen – aber dafür viele Bilder im Netz posten, die wiederum aufgrund der sonstigen Verschlossenheit plötzlich Relevanz bekommen. Verschlossen draußen im wahren Leben, offen in der virtuellen Welt. Auch über diesen Widerspruch diskutieren die Leute bei Mesut Özil. Er ist der Mann, der die Fußballnation spaltet.

Und der 2018 zum zweiten Mal Fußball-Weltmeister mit der deutschen Nationalelf werden will.