Der Videobeweis beim Fußball spaltet wie kein anderes Hilfsmittel die Lager in Gegner und Befürworter. In unserer WM-Serie beleuchten wir, warum er vor der WM umstrittener denn je ist.

Sport: Gregor Preiß (gp)

Stuttgart - Wie gut, dass es sich beim Videobeweis um eine Erfindung der Neuzeit handelt. Ganze Geschichtsbücher des Fußballs müssten sonst neu geschrieben werden. Wäre Argentinien 1986 mit der „Hand Gottes“ tatsächlich Weltmeister geworden? Oder 1990 Deutschland? Bei Andreas Brehmes Foulelfmeter im Finale, als Rudi Völler zu Fall kam, konnte es schließlich keine zwei Meinungen geben. Oder doch?

 

Womit wir gleich beim Kernproblem des Videobeweises angelangt wären: Auch er schafft keine hundertprozentige Klarheit. Die Objektivität, die er suggeriert, gibt es nicht. Weil die Regeltechnik des Fußballs kein Schwarz-Weiß vorsieht. Und der Ball nicht wie im Tennis einfach drin oder draußen ist. Ein Fußballspiel beinhaltet mehr Graubereiche, als viele vor Einführung des angeblichen Wundermittels für mehr Gerechtigkeit glauben wollten. Unweigerlich kommt einem an dieser Stelle Giovanni Trapattoni in den Sinn, der die zeitlose Weisheit prägte: „Fußball ist ding, dang, dong. Es gibt nicht nur ding.“

Die wenigsten Entscheidungen sind eindeutig

Man denke nur an den nicht gegebenen Foulelfmeter für den FC Bayern München im Pokalfinale. Schiedsrichter Felix Zwayer sah sich selbst mit dem Abstand von einem Tag in seiner Entscheidung bestätigt. Er ist vom Fach – und stand doch alleine da. Neun von zehn Unparteiischen hätten wohl anders entschieden. Also war es ein 90-prozentiger Elfmeter. Die meisten Strafstoß-Entscheidungen – dem Haupteinsatzbereich des Videoschiedsrichters – bekommen vielleicht 70- oder 80-prozentige Mehrheiten. 100 Prozent sind es selten.

„Vielleicht sind falsche Erwartungen geschürt worden“, sagt Marco Fritz. Der 40-Jährige aus Korb pfeift seit neun Jahren in der Bundesliga. Den Videobeweis befürwortet er grundsätzlich. Schließlich haben die TV-Assistenten erwiesenermaßen auch schon viele falsche Entscheidungen richtig gestellt. Laut International Football Association Board (IFAB) hat sich die Fehlerquote auf internationaler Ebene reduziert – von sieben auf 1,1 Prozent. Das Problem an der Sache: Die wenigen Fehler werden nicht verziehen – und umso hitziger diskutiert. Weshalb der Fußball auch nicht weniger emotional geworden ist. Siehe das Pokalfinale.

Keine praktische Erfahrung bei der WM

Schiedsrichter Fritz und der Gilde der schwarzen Männer war schon im Vorfeld klar, dass der Videobeweis ihnen niemals ein fehlerloses Spiel bescheren wird. „Das haben vielleicht die Medien und die Öffentlichkeit geglaubt“, betont Fritz. Was nichts daran ändert, dass der Nutzen des international als VAR (Video Assistant Referee) bezeichneten technischen Helferleins durch diverse Pannen bisher nicht so groß war wie erhofft. Die einen sagen: Der Sport ist nicht gerechter geworden. Was sich anhand der Zahlen nicht klar belegen lässt. Andere, wie Frankfurts Sportvorstand Fredi Bobic, lästern (vor dem Pokalfinale wohlgemerkt): „Das ist nicht mehr mein Fußball.“ Sie zielen auf die emotionale Komponente – und damit auf die Gefühlslage vieler Fans.

Die für den Weltverband Fifa aber seit je zweitrangig war. Weshalb nun auch bei der WM in Russland zwei Assistenten an den Bildschirmen zum Einsatz kommen werden. Das Chaos, sagen Kritiker nicht nur aus Deutschland, sei damit programmiert. Schließlich hat die Mehrheit der 35 nominierten Schiedsrichter aus zum Teil spitzenfußballfernen Ländern und der 13 Video-Assistenten (darunter Felix Zwayer) keine praktische Erfahrung mit dem Hilfsmittel.

Der Halbzeitelfer von Mainz als „Tschernobyl des Videobeweises“?

„Ist die WM die geeignete Bühne, eine neue Technik auszutesten? Eines ist klar: Es wird dort viele unklare Situationen geben“, warnt Uefa-Boss Aleksander Ceferin, der sich mit der Champions League der neuen Technik bislang hartnäckig verweigert.

Laut der IFAB-Untersuchung von mehr als 1000 internationalen Spielen hat der VAR in knapp zehn Prozent aller Partien eine spielentscheidende Änderung vorgenommen. Immer dann, wenn Tore oder Elfmeter in Spielen mit knappem Ausgang nachträglich gegeben oder aberkannt wurden. Hochgerechnet auf die 64 Begegnungen in Russland dürften rein statistisch fünf bis sechs Spiele hinterher für reichlich Gesprächsstoff sorgen. Mögliche Sonderfälle wie der Halbzeitelfmeter von Mainz, das „Tschernobyl des Videobeweises“ („Zeit“), noch gar nicht berücksichtigt.

Anders als in der Bundesliga soll den Fans auf den Videoleinwänden in den Stadien in Russland die Entscheidung erklärt werden. „Eine gute Sache“, wie Referee Fritz findet. „Transparenz hat noch nie geschadet.“ Ob das Erklärvideo auch in der kommenden Bundesliga-Saison zum Einsatz kommt, darüber wollen DFB und DFL erst noch entscheiden. Auch hier gibt es zwei Meinungen. Kritiker wie der DFB-Vizepräsident Ronny Zimmermann fürchten einen noch tieferen Eingriff in die Seele des Spiels, wenn der Schiedsrichter plötzlich 60 000 grölenden Fans seine Elfmeter-Entscheidung erklären muss. Das Spiel würde mehr und mehr zur Nebensache – American Football lässt grüßen.

Die Bundesliga als Innovationstreiber

„Mir stehen meine letzten verbliebenen Haare zu Berge“, ätzte unlängst der gestürzte Fifa-Patron Sepp Blatter mit Blick auf die wohl umstrittenste Neuerung im Fußball seit der Einführung der Gelben und Roten Karte im Jahr 1970. Dabei war gerade er es, der den Fußball mit aller Macht in die Moderne trieb. Was technische Innovationen auf dem Platz angeht, so sieht Christian Seifert, der Chef der Deutschen Fußball-Liga (DFL), inzwischen die Bundesliga als „Innovationstreiber“ für den Weltfußball. Kürzlich bei der Messe Sports Innovation in Düsseldorf gelang bei einem Test der Versuch, ein Spiel komplett ohne Schiedsrichter-Assistenten durchzuführen und stattdessen die Seitenlinien und Abseitsentscheidungen durch einen Assistenten am Monitor überprüfen zu lassen.

Es wäre die nächste Entwicklungsstufe. Schiedsrichterwesen 3.0 – wo aber die 2.0-Version kurz vor der WM noch mächtig ruckelt. Dennoch beteuert Fifa-Boss Gianni Infantino: „Wenn wir etwas tun können, damit die WM nicht durch einen Schiedsrichter-Fehler entschieden wird, dann ist es unsere Pflicht, dies zu tun.“

Eine Garantie liefert aber auch der Videobeweis nicht. Dafür ganz sicher jede Menge neue Diskussionen.