Die 33-jährige Brasilianerin erzielt ihr 16. Tor bei der WM. Doch ihre Zeit scheint abgelaufen – wie auch die große Zeit der in die Jahre gekommenen Seleção. Oder doch nicht?

Montpellier - Es kommt nicht so oft vor, dass Marta Vieira da Silva fast nur mit Händen statt mit Füßen spricht. Aber um ihren Worten nach der bizarren 2:3-Niederlage mit den brasilianischen Fußballerinnen gegen Australien in dem bislang abwechslungsreichsten Spiel dieser Frauen-WM noch mehr Nachdruck zu verleihen, schlug sie mehrfach mit der Außenseite der rechten Hand in die Innenfläche der linken. Wie ein Kung-Fu-Lehrer, der seinen Schülern den Handkantenschlag vorführt. Patsch, patsch. Immer wieder.

 

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„Eu quero quebra o VAR!“, sagte sie dazu. Ich möchte mit dem VAR brechen. Sinngemäß: Hört mir mit dem Videoassistenten (VAR) auf, wenn der nicht richtig entscheidet. Die brasilianische Galionsfigur baute sich mit ihren 1,62 Metern nach Abpfiff direkt vor der Schweizerin Ester Staubli auf, um ihren Unmut zu hinterlegen, weil die Schiedsrichterin beim Eigentor von Monica (69.) zunächst auf Abseits entschieden hatte, nachdem Australiens Kapitänin Sam Kerr ja mit zum Ball gesprungen war. Doch dann schaltete sich der deutsche Videoassistent Bastian Dankert ein, Staubli sah sich die Szene auf dem Monitor ein – und gab das Tor.

Die Mannschaft ist in die Jahre gekommen

Südamerikanische Reporter schlugen wütend auf die Tische der Pressetribüne, allerdings stand dieses Malheur nur am Ende der Fehlerkette bei einer Seleção brasileira feminina, in der nicht nur Marta in die Jahre gekommen ist. Weil der Verband CBF die Nachwuchsarbeit im weiblichen Bereich stiefmütterlich behandelt, stellt kein WM-Teilnehmer ein älteres Team. Bezeichnend, dass das verletzungsbedingte Ausscheiden von Formiga bei Marta als weiterer Grund für die Pleite galt: „Ohne Formiga haben wir den Fokus verloren.“ Die „Ameise“ ist mit 41 Jahren die Alterskönigin der WM.

Immerhin schaffte Tamires, 31, nach einem Beinschuss noch einen Spurt, woraufhin Cristiane, 34, das 2:0 köpfte (38.). Zuvor hatte Marta nach einem von der zum 1. FFC Frankfurt wechselnden Verteidigerin Leticia Santos herausgeholten Elfmeter das 1:0 erzielt (27.). Und wo sie eben noch schimpfte, konnte sie ob ihres 16. WM-Treffers – ihr 106. Tor im 145. Länderspiel – auch wieder lächeln. Die 33-Jährige hat nunmehr in fünf WM-Turnieren seit 2003 getroffen. So viele WM-Tore hat geschlechterübergreifend nur Miroslav Klose geschafft.

Verärgerung wegen des ZDF-Reporters

Dass ausgerechnet ZDF-Reporter Tibor Meingast diesen Vergleich vergaß, animierte die temperamentvolle Rekordhalterin sogar, nach dem Interview kehrtzumachen: „Mein Gott, wie konntet ihr das vergessen. Ich habe jetzt auch 16 Tore geschossen, genau wie euer Klose. Das hättet ihr auch mal fragen können.“ So mischten sich an diesem Abend am Mittelmeer bei Marta die merkwürdigsten Emotionen. Dass die Konstellation in der Gruppe C mit den auf Augenhöhe agierenden Teams aus Brasilien, Australien und Italien so vertrackt ist, hatte sich das Team von Trainer Vadão selbst zuzuschreiben, der seine sechsmalige Weltfußballerin zur Pause vorsichtshalber auswechselte. „Marta weiß selbst am besten, wann sie spielen kann und wann sie besser nicht spielt.“ Am 24. Mai im Trainingslager in Portugal hatte seine Nummer zehn eine nicht näher beschriebene Muskelverletzung erlitten und deshalb beim Auftaktsieg gegen Jamaika (3:0) gefehlt.

Die 33-Jährige kann auch keinen großen Glanz mehr über 90 Minuten verbreiten, dazu fehlen der Stürmerin von Orlando Pride längst Dynamik und Tempo. Sie muss alles mit Technik und Spielwitz regeln. Für ihre Generation wird eine Titelchance, wie sie Marta 2007 im WM-Finale gegen Deutschland hatte, als Nadine Angerer ihren Finalelfmeter abwehrte, kaum wiederkommen. Auch Mitstreiterin Cristiane ahnte das im Stade de la Mosson. „Wir haben aufgehört, Fußball zu spielen. Wir dürfen nicht so früh abschalten“, schimpfte die wieder in der Heimat für den FC São Paulo spielende Angreiferin.

Marta gibt nicht auf

Auch sie schlug mehrfach die Hände frustriert zusammen, weil auch sie sich benachteiligt fühlte. Vielleicht ganz gut, dass sich kein Matchkommissar oder gar Videoassistent durch die Mixed Zone zwängen musste. Nur wäre es bei einer Begegnung sicherlich nicht zu jenen Übergriffen gekommen, die in diesem Teil von Montpellier häufig vorkommen sollen.

Ungewöhnlich viele Polizisten hatten in der Umgebung Position bezogen. Beamte tippten Zuschauern sofort auf die Schulter, wenn diese die ausgeschilderten Zuwege abkürzen wollten. Weil in der Gegend offenbar Gestalten lauern, die es nicht bei Andeutungen mit der Handkante belassen würden. Aber das hatte Marta ja nicht zu interessieren. Sondern nur, was am Dienstag im letzten Gruppenspiel gegen Italien gefragt ist: „Wir müssen das Spiel vergessen und gewinnen.“