Vor dem WM-Viertelfinale der deutschen Mannschaft am Freitag gegen Frankreich erinnert der Kolumnist Oskar Beck an die Partien gegen die Equipe tricolore bei den Weltmeisterschaften 1982 und 1986.

Santo André - Die Fußballwelt hat in ein von verkniffenen Gefühlen beeinträchtigtes Gesicht geschaut, als der Uefa-Präsident Michel Platini letztes Jahr beim Finale der Champions League im Londoner Wembley-Stadion seine Pflicht als Uefa-Präsident tat: Erst musste er die Spieler von Borussia Dortmund mit der Silbermedaille beglücken – und sich danach, als Krönung seines verhagelten Tages, auch noch ein tapferes Dauerlächeln abringen beim Aushändigen der Siegerschärpen und des Pokals an Philipp Lahm und die Bayern.

 

So sieht die Höchststrafe aus.

Platini: „Es war das größte Spiel meiner Karriere“

Denn bis Unterkante Oberlippe steht dem großen Franzosen mittlerweile das fragwürdige Gefühl, nach dem Schlusspfiff uns Deutschen mit einem vorschriftsmäßigen Handschlag gratulieren zu müssen. Er kennt es aus zwei historisch wertvollen WM-Halbfinals, von denen ein normal gebauter Mensch nicht einmal eines ohne Spätfolgen verkraftet – und trefflich beschrieben hat er es nach dem „Drama von Sevilla“ anno 1982, als die Franzosen mit dem mutmaßlich besten Team ihrer Fußballgeschichte ein unfassbares Spiel, das sie schon gewonnen hatten, doch noch verloren.

„Es war das größte Spiel meiner Karriere, weil es das intensivste war“, sagt Platini. „In zwei Stunden habe ich alles durchlebt, was es an Gefühlen gibt. Zufriedenheit, Traurigkeit, Freude, Wut, Haß – das kann einem in dieser Intensität kein Film und kein Theaterstück geben.“

Platini war seinerzeit ein Weltstar

Morgen trifft Frankreich nun wieder auf Deutschland, diesmal in Rio de Janeiro und diesmal schon im Viertelfinale, aber das wird die Albtraumgefahr in Platinis Hinterkopf nicht verscheuchen, denn ansonsten ist alles wie früher. Die Stimmung bei den Deutschen ist angeschlagen, die der Franzosen bestens, und der Bundestrainer Joachim Löw schwärmt von seinem Kollegen: „Unter Didier Deschamps ist bei den Franzosen eine tolle Entwicklung zu sehen.“ Unter Löw bei den Deutschen eher nicht. Alles klar also für morgen?

Fragen Sie Platini.

Er war seinerzeit ein Weltstar. Er war eine Nummer zehn alter Prägung, großer Stratege und großer Torschütze, wie Pelé und Maradona. Er war der Star von Juventus, Europacupsieger der Landesmeister, Weltcupsieger und mehrfach Europas Fußballer des Jahres, und im französischen Mittelfeld vereinigte er sich mit Alain Giresse und Jean Tigana zu einem traumhaften Trio. Sie lachten wie die Drei von der Tankstelle und spielten die Gegner schwindlig – solange es nicht die Deutschen waren.

Wir wollen hier nicht als Nestbeschmutzer das Vaterland schänden, aber bei der WM 1982 spielte die deutsche Mannschaft zunächst nur mit, um die Welt zu ärgern und sich zu blamieren, allein zweimal (aber dazu ist inzwischen alles gesagt) in puncto Algerien in Gijon. Doch dann kam die Nacht von Sevilla. Alles sprach für die Blauen und „Monsieur Genial“, den Fußballpicasso Platini. Es war brütend heiß, fast 40 Grad wurden gemessen, und es ging Schlag auf Schlag bei dieser Kollision zwischen Kunst und Kreativität auf der einen und Kraft und Kampf auf der anderen Seite. In der Verlängerung führen die Franzosen uneinholbar 3:1, die Messe war gelesen, das Amen gesungen, aber die Kirche irgendwie doch nicht aus: Rummenigge 2:3, Fischer 3:3, Elfmeterschießen. Toni Schumacher packte im Tor zweimal zu, und kurz vor Mitternacht traf Hrubesch. 8:7. Aus.

„Gibt es im Fußball keine Gerechtigkeit?“, brüllte Frankreichs Trainer Michel Hidalgo hoch zum Himmel. Denn der Held hieß Schumacher. Ausgerechnet Schumacher. Wie ein Rammbock hatte der Kölner Torwart mitten im Spiel den Franzosen Battiston niedergestreckt. Der verlor drei Zähne – aber vor allem verlor Platini mit seiner Équipe tricolore in jener unwiederholbaren Nacht ein Stück Glauben an sich selbst.

Die Deutschen holpern durch die WM

Mexiko, vier Jahre später. Am 25. Juni 1986 sitze ich vor dem WM-Halbfinale in einem Cafe am Jalisco-Stadion in Guadalajara neben einem traurigen brasilianischen Kollegen. Sócrates, Falcão und Zico sind vier Tage vorher ausgeschieden – nach einem atemberaubenden Duell gegen die mitreißenden Franzosen, im finalen Thrill des Elfmeterschießens. 4:5. „Ihr seid trotzdem die Besten“, tröste ich ihn.

„Nein, ihr seid die Besten“, widerspricht er, „alle Brasilianer bewundern euch Deutsche, denn ihr gewinnt, auch wenn ihr nicht so gut spielt.“ Ich nehme den armen Kerl in den Arm und denke: Fußball ist verrückt, wir Deutschen verzweifeln hier an unseren Rumpelkickern – und der Rest der Welt zittert vor uns. „Ihr gewinnt auch gegen Frankreich“, sagt der Brasilianer.

Aber das ist ausgeschlossen, absurd, abwegig. Die Deutschen holpern bis dahin mit Ach und Krach durch die WM, und in der DFB-Herberge Mansion Galindo in Queretaro wackeln mitunter die Wände. Vor allem wegen der Torwartfrage. Uli Stein findet es blöd, dass der Teamchef Franz Beckenbauer auf Schumacher setzt, und weil ihm dazu so zweifelhafte Ausdrücke wie „Suppenkasper“ und „Gurkentruppe“ über die Lippen kommen, hilft nur noch seine Zwangseinweisung ins nächste Flugzeug nach Hause. Die Gurkentruppe murkst sich über Uruguay (1:1), Schottland (2:1), Dänemark (0:2), Marokko (1:0) und das Elfmeterschießen gegen Mexiko ins Halbfinale – und die Franzosen, die ständig die Welt verzaubern, sind klarer Favorit.

Doch einer weiß es besser: Hans-Peter Briegel, die „Walz aus der Pfalz“. Im DFB-Camp stellt sich die knorrige Kante aus Kaiserslautern hin wie eine Eiche, denkt an Sevilla und sagt mit seinem weltweit gefürchteten Grinsen im Mundwinkel: „Die zittern jetzt schon.“

In der Mannschaftssitzung, wird erzählt, habe Franz Beckenbauer dann nur noch zu seinem Hamburger Kilometerfresser Wolfgang Rolff das alles entscheidende Wort sagen müssen: „Platini.“ Rolff nickte, und der Rest ist rasch erzählt. 1:0 Brehme. 2:0 Völler. Der DFB-Präsident Egidius Braun klimperte bei der nächtlichen Siegesfeier virtuos auf dem Klavier – und Michel Platini denkt jetzt nur noch an morgen.