Was bleibt in Erinnerung vom Turnier in Katar? Das Bild von einer Hochglanz-WM, bei der alle Probleme sorgfältig unter den Teppich gekehrt wurden. Eine erste Bilanz.

La’eeb soll auch noch in Richtung des Endspielwochenendes gute Laune verbreiten. La’eeb ist arabisch und heißt übersetzt „supertalentierter Spieler“. La’eeb ist kein Tier, sondern ein Wesen, das die arabische Kopfbedeckung Agal trägt und nett lächelt. Auch an der mehrspurigen Ausfallstraße, die Doha mit der Vorstadt Al-Rayyan verbindet. Dort haben die Organisatoren der Fußball-WM eine gut 100 Meter lange Ahnenreihe der WM-Maskottchen platziert. La’eeb, das Wesen aus Katar, steht im Mittelpunkt. Drum herum sind etliche Verwandte zu erkennen. Der Löwe Willie von der WM 1966 in England etwa. Oder Tip und Tap von der WM in Deutschland 1974. Der argentinische Gauchito (WM 1978) ist genauso da wie das italienische Strichmännchen Ciao (1990).

 

La’eeb reiht sich ein in den Maskottchen-Reigen. Katar, das soll die Ahnengalerie wohl sagen, gehört zur großen Fußballfamilie. Was Gianni Infantino so sicher unterschreiben würde. Doch auch dem  skandalumtosten Chef des Weltverbands Fifa dürfte aufgefallen sein, dass sich die Begeisterung der Katarer für die WM als ausbaufähig erwies. Die Stimmung, die die Einheimischen verbreiteten, passte zu den sportlichen Auftritten der Gastgeber: Es war trist.

Das Team Katar konnte nicht mithalten, es schied sang- und klanglos aus. Beim Eröffnungsspiel, das der Gastgeber bestreiten durfte, suchten Tausende Zuschauer schon zur Pause das Weite. Die Bilder gingen um die Welt. Es waren Szenen, die der Emir und der Fifa-Chef so nicht auf  dem Plan hatten bei ihrer Hochglanzveranstaltung in der Wüste – bei der ihnen schon  jedes Sandkorn zu viel des Drecks war im schönen, polierten Schein. Vom Wirbel um die Gastarbeiter in ihren Baracken in den abgeriegelten Industriegebieten ganz zu schweigen.

An der Oberfläche, also vornehmlich in der Metropole Doha, war alles blitzeblank. Sauber, manchmal gar klinisch rein wirkte die glitzernde Szenerie in der City, die auch als Plastikstadt durchgehen könnte. Pralle Hülle, leere Seele – aber nicht nur. Denn neben den Fanscharen aus Südamerika brachten  die unzähligen Bediensteten Leben in die Stadt, das mitunter beklemmend wirkte. An jeder Ecke, ob im Hotel, in Shoppingmalls, in den Metrostationen, in Stadien oder auf der Fanmeile, kehrten und wischten die Arbeiter unentwegt. Oder nahmen dem Besucher den Müll aus den Händen, bevor dieser ihn in den Abfalleimer hätte werfen können.

Die Stimmung in und um Doha herum war mitunter ausgelassen, elektrisierend war sie selten. Wenn Argentinien oder Brasilien spielte, wähnte man sich in Buenos Aires oder Rio de Janeiro, so heißblütig ging es zu. Kritik an der WM, der skandalösen Vergabe, dem zwielichtigen Gastgeber oder dem korrumpierten Weltverband? Gibt es kaum in diesen Ländern – in denen die Anhänger stets dieses Motto leben: WM ist WM. Komme, was wolle, koste es, was es wolle, also nix wie hin. Auch in die Wüste.

Bei den Auftritten der europäischen Teams dagegen war es mangels angereister Fans manchmal so still, dass man sich an strenge Coronazeiten in Deutschland und leere Arenen erinnert fühlte. Den Trainer rufen oder den Torwart schimpfen hören? War im Stadion kein Problem.

Die Stille war auch ein Begleiter dieser WM – besonders dann, wenn man sich von Doha aus wegbewegte. Dass die deutsche Elf, die sich 100 Kilometer nördlich der Metropole in der Pampa einquartiert hatte, sang- und klanglos ausschied, passte in dieses Bild. Das Turnier  war aber nicht nur aus deutscher Sicht eher eines in Moll – allen voran in Al Khor. Die eine halbe Autostunde von Doha entfernte 30 000-Einwohner-Stadt war unter anderem Spielort zweier deutscher  Vorrundenpartien und des Halbfinals zwischen Frankreich und Marokko am Mittwochabend. An keinem Tag kam im kleinen Zentrum so etwas wie WM-Atmosphäre auf. Wer eine Stunde vor dem Anpfiff in Richtung des Stadions ging, der dämpfte  sogar seinen Schritt – weil man die Sandkörner unter sich in ihrer Nachtruhe nicht stören wollte. Das abgelegene Al-Bayt-Stadion wurde also zu einer Art Symbol dieses Turniers, und das nicht nur aufgrund seiner Optik. So sieht die  Arena von außen aus wie ein riesiges Beduinenzelt, sie wurde für die WM mitten in die Wüste gerammt. Nun dürfte alles langsam verrotten. Denn es gibt in dieser Gegend rund um die graue Industriestadt keine Verwendung für ein Stadion mit fast 70 000 Plätzen. Wenn Gianni Infantino also von der nachhaltigsten WM der Geschichte spricht, wüsste man gerne, woran er das festmacht.

 Überhaupt, die Nachhaltigkeit – wie wenig sie gegeben ist, ist in Al Khor sichtbar. So gibt es rund 20 Fußminuten von der riesigen Zeltarena entfernt eine Apartmentanlage am Rande der Stadt, die vom Weltverband für die WM geblockt wurde: für Fans, Mitarbeiter oder Medienschaffende. Die Angestellten berichteten kürzlich davon, dass die Anlage direkt nach der WM wieder geschlossen wird. Weil niemand mehr hier unterkommen will. Einer, der noch da ist, ist Geraldo, der Schrankenwärter  aus Kenia. Er wacht bis zum Turnierende bei 30 Grad über die Einfahrt, neun  Stunden lang täglich. Im Rahmen eines WM-Projekts arbeitet er sechs Monate lang  in Katar. Auf Englisch berichtet er davon, dass er zufrieden sei mit den Bedingungen. Dass er jeden Tag mit dem Bus abgeholt werde von seiner Unterkunft, die okay sei. Nur seine Familie daheim, die vermisse er. Aber er müsse eben Geld verdienen, und vor allem rund um die WM gebe es hier viel mehr als daheim.

Ähnliche Töne sind von Mermitch und Merlun zu vernehmen. Beide Frauen, eine kommt von den Philippinen, die andere aus Indien, sind während der WM als Reinigungskräfte angestellt. Sie sind nach dem Zimmersaubermachen so verwundert wie erfreut darüber, dass hier jemand wissen wollte, wie es ihnen geht und was sie hier so machen. Das, so sagt es Mermitch, habe sie noch nie erlebt. Vorher berichtet sie, wie der Kenianer an der Schranke, von guten Wohnbedingungen, die sie habe, und vom guten Geld, das sie verdiene. Aber Mermitch vermisst ihre zweijährige Tochter, die zu Hause von den Schwiegereltern betreut wird. Ihr Mann ist mit in Katar, erzählt sie. Hier sei es viel sicherer als in ihrer Heimat, da sind sich Mermitch und Merlun einig. Denn: „Es gibt hier so gut wie keine Kriminalität.“

Schöner neuer Schein?

Aussagen wie diese  waren von vielen Arbeitsmigrantinnen und -migranten während des Turniers zu hören und zu lesen –  weshalb sich schnell der Verdacht aufdrängte, ob der Gastgeber Katar und die Fifa pünktlich zur WM die Arbeitsbedingungen verbessert haben, um einen schönen neuen Schein zu wecken. Und womöglich auch in der Hoffnung, dass Menschen wie der kenianische Schrankenwärter oder die beiden Reinigungskräfte von  den Philippinen und aus Indien der Welt über diese neuen Zustände berichten.

Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International befürchten, dass die plötzlich mitunter akzeptablen Arbeitsbedingungen in Katar wieder zurückgenommen werden, sobald das Scheinwerferlicht mit dem Ende der WM ausgeknipst wird.

Ein Arbeitsmigrant, der schon länger im Emirat ist, sagte mit der Bitte, ihn nicht beim Namen zu nennen, kürzlich dies:  „Sie versuchen hier während der WM alle Bedingungen für uns schönzufärben – hinterher wird es wieder so, wie es vorher war.“