Kein Platz für Übermut: „Die Spieler bleiben auf dem Boden und sind geerdet“, sagt der Bundestrainer Joachim Löw. Alle Konzentration gilt dem WM-Finale am Sonntag.

Santo André - Auch Hans-Dieter Hermann kommt irgendwann aus der Umkleidekabine. Er trägt ein rotes Poloshirt, ein ganz besonderer Glanz hat sich in sein ohnehin schon bekannt freundliches Lächeln gelegt. Seit zehn Jahren ist er Teampsychologe der deutschen Fußball-Nationalmannschaft – und spätestens jetzt weiß er, dass sich die Arbeit gelohnt hat. Auch Hermann wird in Zukunft erzählen können, dabei gewesen zu sein, als in Belo Horizonte das Fußballwunder geschah.

 

Man weiß ja nie so ganz genau, was Hermann den lieben langen Tag so macht, wenn er wochenlang mit der Nationalmannschaft unterwegs ist. Und man denkt sich als unbedarfter Laie, er werde bestimmt nur benötigt, wenn irgendwas gewaltig schiefläuft. Vor Beginn der WM saß er einmal in Santo André auf dem Podium, es ging um den großen Druck bei einem solchen Turnier, das war’s. Unauffällig war anschließend seine Rolle – doch jetzt, da die WM fast vorüber ist, ist Hermann noch einmal ein gefragter Gesprächspartner. Ob er nun mit psychologischen Tricks dafür sorgen müsse, dass kein Nationalspieler die Bodenhaftung verliert? „Ich bin ganz sicher“, sagt er dann: „Keiner von den Spielern wird jetzt übermütig.“

Die größte Gefahr: Überheblichkeit

Dabei gäbe es Gründe, Oberwasser zu bekommen: die Leistung etwa, mit der die deutsche Auswahl beim 7:1-Triumph gegen den WM-Gastgeber ins Endspiel eingezogen ist; der rauschende Beifall, mit dem am Ende selbst das brasilianische Publikum die Deutschen verabschiedete; die grenzenlose Begeisterung im eigenen Land; die fast hymnische Verehrung, die der Rest der Welt dem DFB-Team seit diesem denkwürdigen Dienstagabend entgegenbringt.

Mit einer ganzseitigen Traueranzeige auf der Titelseite beklagen am nächsten Tag die brasilianischen Zeitungen den Tod ihrer Nationalmannschaft, mehr noch: des ganzen Landes („Brasilien, geboren am 12. Juni 2014, gestorben am 8. Juli 2014“). Und sie feiern ansonsten den neuen Weltmeister, der nur aus Deutschland kommen kann. Da kann man, wenn man DFB-Spieler ist, schon mal ’nen Kopf größer werden.

Das ist im Sport mit die größte Gefahr: zu glauben, dass nichts mehr schiefgehen könne; überheblich zu werden und zu denken, der Weltmeistertitel stehe bereits fest, noch ehe am Sonntag im Maracanã-Stadion das Endspiel gegen Argentinien angepfiffen wird. Es ist beruhigend zu wissen, dass wohl keiner aus der deutschen Auswahl in diese Falle tappen wird. Bundestrainer Joachim Löw hat die angemessene Haltung bereits vorgegeben. So gefasst und zurückhaltend sitzt er nach seinem größten Sieg als Fußballlehrer vor der staunenden Weltpresse, als gelte es, ein Qualifikationsspiel gegen Aserbaidschan zu analysieren. „Man sollte das Ergebnis nicht zu hoch hängen“, sagt Löw: „Wir können den Sieg richtig einordnen.“ Er wisse, dass Brasilien „nicht seinen besten Tag“ gehabt habe. Es gelte, „Demut zu zeigen“.

Jubel, Trubel, Heiterkeit nur im deutschen Fanblock

Der gemäßigte Umgang mit dem historischen Erfolg war neben dem furiosen Auftreten auf dem Platz die zweite herausragende Leistung, die das DFB-Team gezeigt hat. Jubel, Trubel, Heiterkeit herrschte nach dem Schlusspfiff nur im deutschen Fanblock („So ein Tag, so wunderschön wie heute“), der es sich bedauerlicherweise aber auch nicht verkneifen konnte, die Zuschauer des Gastgebers zu verhöhnen („Ihr könnt nach Hause fahren“).

Wahre Sportsmänner der alten Schule

Die deutschen Spieler jedoch: wahre Sportsmänner der alten Schule. In der zweiten Hälfte ließen sie sich nicht dazu hinreißen, den Gegner mit Hacke und Spitze zu veralbern – „wir haben nicht irgendwelche Faxen gemacht, sondern seriös weitergespielt“, sagt Thomas Müller. Zusammen mit Toni Kroos kümmerte sich der Torjäger nach dem Spiel um den Münchner Mitspieler Dante. Und Sami Khedira richtete noch Marcelo auf, seinen verzweifelt am Boden knieenden Kollegen von Real Madrid. Keine Gebärden des Triumphs und keine Polonaise. Stattdessen große Szenen des Mitgefühls und der Selbstdisziplin, die einen erst recht daran glauben lassen, dass diese Mannschaft auch den letzten Schritt zum großen Ziel gehen wird.

„Wie ein schöner Traum“ habe sich das Spiel gegen Brasilien angefühlt, sagt der Innenverteidiger Mats Hummels – und ist hinterher sehr schnell wieder in der Realität gelandet. „Perfekt war das Spiel auf keinen Fall – aber man war auch schon mal weiter weg davon als heute.“ Manuel Neuer, der famose Torhüter, gibt die Devise für die nächsten Tage aus: „Jetzt heißt es Ruhe bewahren und sich nicht zu sehr freuen.“

Vier Tage sind es noch bis zum großen Endspiel in Rio; vier Tage, an denen die deutsche Nationalmannschaft regenerieren und dann die letzten verbliebenen Kräfte bündeln wird. Und niemand wird auf die Idee kommen, so kurz vor dem Ziel übermütig zu werden. Als die Mannschaft ins Campo Bahia zurückkehrt, wird sie mit einer Tanzeinlage, mit Trommelwirbel und Gesang begrüßt. Doch die Festgesellschaft löst sich sehr schnell wieder auf, die gefeierten Helden ziehen sich zurück. „Im Finale wird es wieder bei 0:0 losgehen“, sagt der Kapitän Philipp Lahm.

Hans-Dieter Hermann, so ist zu vermuten, wird wenig Arbeit bekommen. „Ich spüre, dass die Spieler auf dem Boden bleiben und geerdet sind“, sagt Joachim Löw: „Und ich glaube auch zu erkennen, dass diese Mannschaft unbedingt bereit ist, den letzten Schritt zu gehen.“