An Neymar scheiden sich die Geister, auch Ex-Schiedsrichter Knut Kircher gehört zu den Kritikern des Brasilianers – dagegen stellt der Rottenburger seinen pfeifenden Ex-Kollegen ein gutes WM-Zeugnis aus.

Rottenburg/Stuttgart – Der ehemalige Schiedsrichter Knut Kircher spricht über die Leistungen seiner Kollegen bei der WM, den brasilianischen Star Neymar und den Umgang des Weltverbandes Fifa mit dem deutschen Referee Felix Brych. -
Herr Kircher, 60 der 64 WM-Spiele sind vorbei. Wenn Sie zurückblicken, welche Szene kommt Ihnen spontan in den Sinn?
Es ist nicht nur eine Szene.
Sondern?
Es sind die Chancen, die das deutsche Team gegen Südkorea nicht genutzt hat. Die Mannschaft hat das Weiterkommen leichtfertig verspielt. Das war sehr, sehr schade.
Was bedeutet es, dass Sie nicht gleich an eine Situation denken, bei der ein Schiedsrichter im Mittelpunkt stand?
Dass die WM aus Schiedsrichter-Sicht bisher hervorragend läuft. Es gibt aus meiner Sicht sehr viele positive Auftritte, ich habe etliche Schiedsrichter-Persönlichkeiten gesehen, die mich auf dem Platz mit klarer Gestik, Mimik und Körpersprache überzeugt haben. Ich kann dazu nur zwei Worte sagen: alle Achtung!
Hört sich an, als seien Sie selbst ein bisschen überrascht von Ihrem Urteil.
Es gab auch schon Weltmeisterschaften, die ganz anders liefen. Was diesmal auffällt, sind zwei Dinge: Erstens stimmt das Maß, die Kollegen wurden sehr gut eingestellt. Das Stilmittel, viel laufen zu lassen, gefällt mir. Und zweitens zeigen auch Schiedsrichter, die nicht jede Woche in der Champions League oder in einer der großen nationalen Ligen pfeifen, ganz starke Leistungen.
Ist das eine Entwicklung – oder Zufall?
Es ist sicher kein Zufall, sondern das Ergebnis einer enorm harten, konsequenten Vorbereitung auf die WM. Es ist klar zu sehen: Die Jungs aus den exotischeren Fußball-Ländern haben aufgeschlossen.
Wie läuft eine solche Vorbereitung ab?
Ganz intensiv wird es ungefähr ein dreiviertel Jahr vor der WM. Ab da findet jeden Monat ein einwöchiger Lehrgang statt, mit einem knallharten Programm.
In dem auch die Zusammenarbeit mit dem Video-Assistenten geschult wird?
Sicher. Es gab bei jedem Lehrgang ein extra Spielfeld, auf dem die komplette Technik installiert war. Dann ließ man zwei Teams gegeneinander spielen, die den Schiedsrichtern auf dem Rasen und vor dem Bildschirm immer neue, teils sehr überraschende Aufgaben gestellt haben.
Nach den nicht immer guten Erfahrungen in der Bundesliga hatten viele Fans befürchtet, dass bei der WM rund um den Videobeweis das große Chaos ausbrechen würde . . .
. . . und jetzt ist, auch dank der vielen Übungseinheiten, von denen die Öffentlichkeit nichts mitbekommen hat, genau das Gegenteil passiert. Bei der WM wurde in punkto Videobeweis eine Erfolgsgeschichte geschrieben.
Wie kommen Sie zu dieser euphorischen Einschätzung?
Das Zusammenspiel zwischen Schiedsrichtern und Video-Assistenten hat super geklappt. Die Leute vor dem Bildschirm haben sehr maßvoll eingegriffen, und wenn sie es taten, lagen sie in sehr, sehr vielen Szenen richtig. Insgesamt waren enorm wenige Korrekturen nötig. Natürlich war auch die eine oder andere Szene dabei, über die man im Nachhinein diskutieren kann, aber insgesamt taugt diese WM als Lehrbeispiel.
Auch für die Bundesliga?
(überlegt) Schwieriges Thema.
Wieso?
Bei der WM ist die Grenze, wann ein Video-Assistent einzugreifen hat, viel klarer gezogen. Dazu kommt die wesentlich großzügigere Linie in der Spielleitung, die vom Weltverband Fifa vorgegeben wird. Und ich habe das Gefühl, dass die Akzeptanz des Videobeweises bei Spielern, Trainern und Betreuern bei der WM viel größer ist. All das würde ich mir für die Bundesliga auch wünschen.
Und wo ist jetzt die Schwierigkeit?
Ich wehre mich dagegen, die Probleme beim Videobeweis nur bei den Bundesliga-Schiedsrichtern abzuladen. Und auch nicht nur sie sind für die Lösung verantwortlich.
Sondern?
Die WM zeigt ja deutlich, wie es laufen kann, wenn der Veranstalter klare Grenzen zieht und diese dann auch durchsetzt. Zudem stört mich in der Bundesliga, dass Kommentatoren und Journalisten oft Meinung zu Gunsten eines Vereins machen. Wenn wie bei der WM etwas neutraler berichtet würde, wäre die Akzeptanz für den Videobeweis bei den Fans größer, und auch das würde helfen.
Bei der WM fällt auf, dass die Spieler immer wieder versuchen, Schiedsrichter zu beeinflussen, sie anschreien, sich bedrohlich vor ihnen aufbauen. Was denken Sie über diese Unsitte?
Ja, das kam in einzelnen Spielen vor, allerdings immer nur dann, wenn es der Schiedsrichter zugelassen hat. Ich hätte mir gewünscht, dass der eine oder andere hier schneller ein Zeichen setzt und dem Spieler, der auf ihn zustürmt, die Gelbe Karte zeigt. Das hätte durchaus Vorbildcharakter gehabt, bis hinunter in unseren Jugendfußball.
Es gab auch sonst viel Theatralik zu sehen bei dieser WM, zum Beispiel von Neymar.
Stimmt. Bei einer WM gibt es vermehrt Charaktere, auf die sich ein Schiedsrichter ganz speziell einstellen muss. Auch hier ist eine gute Vorbereitung wichtig, und dann natürlich auf dem Feld das richtige Augenmaß im Umgang mit solchen Spielern. Am Ende geht es darum, dass solche Profis einem Schiedsrichter mit ihren Eskapaden nicht das ganze Spiel kaputt machen.
Unter diesem Aspekt dürfte Neymar bei Schiedsrichtern wenig Freunde haben.
Bei ihm geht es doch um etwas ganz anderes. Natürlich macht ein Profi wie Neymar dem Schiedsrichter das Leben schwerer, am Ende aber steht er doch vor allem sich selbst im Weg. Die Reaktion der Fans – bis hin zu Jugendspielern, die ihn veralbern – zeigt doch, dass er sich mit seiner Art keinen Gefallen tut. Dabei hätte ein Spieler seines Formats solche Eskapaden doch gar nicht nötig.
Im Viertelfinale von Neymars Brasilianer gegen Belgien verzichtete der Schiedsrichter bei einer kniffligen Szene im Strafraum auf den Einsatz des Videobeweises. War das nicht ein Versäumnis?
Selbst wenn man das Standbild bemüht, ist es dennoch schwierig. Aus meiner Sicht wäre ein Elfmeter möglich gewesen, dafür spricht die Berührung des Belgiers Vincent Kompany, noch bevor der Ball komplett im Aus war. Dagegen spricht, dass Kompany zurückzieht.
Die WM ist nicht nur für Spieler eine große Bühne, sondern auch für Schiedsrichter. Felix Brych musste nach nur einer Partie wieder abreisen. Zurecht?
Nein. Er ist ein Weltklasse-Schiedsrichter, ich hätte ihm auf jeden Fall die Chance gegeben, in einem zweiten Spiel noch einmal zu zeigen, was er kann.
Obwohl die Vorrunden-Partie zwischen der Schweiz und Serbien, die er gepfiffen hat, nicht optimal gelaufen ist?
Er hat 89 Minuten eine gute Leistung gezeigt. Und dann gab es noch eine Szene, die für Diskussionen sorgte, weil er einen Elfmeter für Serbien, den er hätte geben können, nicht gegeben hat, da er nach einer klaren Kommunikation dem Urteil seines Video-Assistenten vertraut hat. Und damit war er schon geliefert? Das war nicht okay.
Was hätte die Fifa tun sollen?
Auf jeden Fall mal mit mehr Transparenz agieren, offen und ehrlich darüber sprechen, wie die Leistung von Felix Brych eingeschätzt wird. Und ihn nicht zwei Wochen in der Luft hängen lassen, um ihn dann doch nach Hause zu schicken. So wenig Wertschätzung und Respekt im Umgang hat ein Schiedsrichter bei einer WM nicht verdient.
Fehlt Felix Brych die Lobby?
Das kann ich nicht beurteilen. Ich weiß nur, dass die WM für ihn richtig blöd gelaufen ist. Erst musste er sehr lange auf seinen ersten Einsatz warten, dann hat er gleich ein politisch hochbrisantes Spiel bekommen. Das war zwar ein Vertrauensbeweis, doch er hatte gar keine Chance, richtig in diese WM hineinzufinden. Bei einer Leichtathletik-WM läuft ein 100-Meter-Sprinter ja auch nicht gleich sein Finale.
Das Endspiel in Russland ist am Sonntag. Welchen Schiedsrichter würden Sie nominieren?
Ich hätte drei Kandidaten.
Wen?
Den Niederländer Björn Kuipers, den Argentinier Nestor Pitana und den Iraner Alireza Faghani, der im ersten Spiel des deutschen Teams gegen Mexiko Toni Kroos ganz souverän in die Schranken gewiesen hat. Dieses Trio zeigt Top-Niveau, sticht trotz der guten Leistungen vieler anderer Schiedsrichter aus meiner Sicht hervor.