Behutsam drehen Länder wie Hessen und Bayern wieder das Rad bei G 8 zu Gunsten von G 9 zurück. Bundesweit hat sich Schulzeitverkürzung längst etabliert – doch viele Länder setzen mehr und mehr auf Wahlfreiheit und Entschleunigung.

Stuttgart - Die Rede des früheren Bundespräsidenten Roman Herzog (CDU) liegt 15 Jahre zurück. Warum man in Deutschland nicht in zwölf Jahren das Abitur ablegen könne wie überall auf der Welt, fragte Herzog. Bei der langen Schulzeit handele es sich um „gestohlene Lebenszeit“. Die Rede zog weite Kreise. Inzwischen ist in 15 von 16 Bundesländern die Gymnasialzeit von neun auf acht Jahre verkürzt worden, einzige Ausnahme ist Rheinland-Pfalz. Doch das Pendel schwingt zurück. Viele Länder lassen wieder G9 an Gymnasien zu. Nach der Beschleunigung kommt die Entschleunigung. „Kartoffelpolitik“, witzelt man beim Bayerischen Lehrerverband: „Rin in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln.“

 

Einen schulpolitischen Paukenschlag setzte dieser Tage der hessische CDU-Ministerpräsident Volker Bouffier, der mit seiner frisch ins Amt eingeführten Kultusministerin Nicola Beer (FDP) ein Versprechen abgab: „Alle Gymnasien sollen zum Schuljahresbeginn 2013/2014 die Wahl zwischen G8 und G9 haben.“ Es war als ungerecht empfunden worden, dass die kooperativen Gesamtschulen in Hessen die Wahl zwischen G8 und G9 hatten, die Gymnasien aber nicht. Aber auch Bouffier zieht eine positive Bilanz: „Wir haben G8 erfolgreich eingeführt.“ Trotzdem wird korrigiert.

Im Kultusministerium sind die Gefühle gemischt

Elternproteste haben in Wiesbaden zum Umdenken geführt. Im Kultusministerium sind die Gefühle gemischt. In erster Linie seien es gutbürgerliche Eltern, die meinten, wenn es bei ihren Kindern in der Schule „schlecht läuft“, wollten sie die lieber auf ein G9-Gymnasium schicken. Ministerin Beer will im September ihre Reform vorlegen, hat aber in einem dpa-Gespräch erklärt, dass sie „grundsätzlich G8 den Vorzug“ gebe. Auch was eine Erleichterung des Lehrstoffs anbelangt, setzt die 42-jährige Juristin, deren Kinder übrigens auch eine G8-Schule besuchen, eigene Akzente: „Wir müssen die Lehrpläne nicht noch mehr entschlacken, sondern wir müssen die entschlackten Vorgaben anwenden.“

Im Klartext heißt das, dass offenbar Lehrer einzelner Schulen noch ihr altes Pensum durchziehen und sich wenig um die Schul-Curricula kümmern, wie Lehrpläne neuerdings heißen. Ein Experte in Wiesbaden spitzt es polemisch zu: „Da gibt’s Lehrer, die zwölf Doppelstunden Johanna von Orléans halten, obwohl es auch neun täten.“

Auch Bayern vollzieht eine Kurskorrektur

Auf den Coup von Wiesbaden folgte auch in München die Ankündigung einer Reform unter dem Titel „Weiterentwicklung des Gymnasiums“. Was Ministerpräsident Horst Seehofer und Kultusminister Ludwig Spaenle (beide CSU) vorhaben, ist eine Kurskorrektur. In Bayern hatte eine Lehrerumfrage zu G8 ergeben, dass der Lehrplan in Mathe, Physik und Geschichte zu voll gestopft sei. Wohl deshalb plant Spaenle nun eine Stoffreduzierung in elf von 25 Fächern. Aber das wirklich schillernde Novum in Bayern wird die Einführung eines sogenannten Intensivierungsjahres sein: In der achten, neunten oder zehnten Klasse sollen Schüler mit Schwächen die Chance erhalten, zwölf Monate lang „intelligent zu wiederholen“, ohne dass das als Sitzenbleiben zählt. Im Prinzip würde für sie die Schulzeit nach 13 Jahren enden – eine stille Rückkehr zu G9 bei unverändertem Lehrplan. Auch starke Schüler sollen ein „Intensivjahr“ einlegen können. Kurzum: Bayern drosselt ebenfalls das Tempo.

Die GEW hat schon früh gewarnt

Für die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) sind die Kurskorrekturen ein Beleg für den „Dilettantismus“, mit dem G8 eingeführt wurde. „Die Länge der Schulzeit ist egal, solange es ein stimmiges Konzept gibt. Das gibt es nicht“, sagt die stellvertretende GEW-Vorsitzende Marianne Demmer. Was jetzt passiere, das sei Kosmetik. Die GEW habe schon früh gewarnt, dass man G8 nur an Ganztags- oder Gesamtschulen machen könne. Beim Deutschen Philologenverband fällt die Kritik nicht so harsch aus. „Ich würde es nicht als Rückentwicklung von G8 bezeichnen, aber wir sehen einen Trend zur Flexibilisierung“, sagt Präsident Heinz-Peter Meidinger. Es sei ein Grundfehler der Einführung von G8 gewesen, zu glauben, dass dies auch an Schulen gehe, die nicht Ganztagsschulen seien.

Meidinger leitet ein Gymnasium in Niederbayern und hat beobachtet, dass in seiner Region „tolle Schüler“ auf die Realschule geschickt werden, nur weil ihre Eltern wünschten, dass sie nachmittags daheim seien. Seit der Einführung von G8 seien die Übertrittsquoten aufs Gymnasium rückläufig. Der Philologenverband fordert – in den Landesverbänden in unterschiedlicher Lautstärke – die Wahlfreiheit für Gymnasien, ob sie G9 parallel zu G8 laufen lassen wollen.

Ruhig ist die Bildungsfront nur im Osten

Aber sind wirklich viele Gymnasien an G9 interessiert? In Nordrhein-Westfalen hatten 2010 die Gymnasien die Wahl zur Umkehr: Von 600 entschieden sich lediglich 13 für die Rückkehr zu neun Jahren bis zum Abitur. In Schleswig-Holstein entschieden sich von 100 Gymnasien nur 15 für diesen Weg – dies aber mit positivem Echo. Denn trotz rückläufiger Kinderzahl stieg die Schülerzahl an den G9-Schulen weiter an. Wohl deshalb hält die neue rot-grüne Regierung in Kiel an der Parallelität von G8 und G9 fest, obgleich der Landesrechnungshof das Angebot als teuer rügt.

Ruhig ist die Bildungsfront nur im Osten: In den neuen Ländern gab es schon zu DDR-Zeiten die zwölfjährige Schulzeit. „Wir haben G8 seit der friedlichen Revolution von 1989“, heißt es im sächsischen Schulministerium. Reformbedarf bestehe nicht. In Berlin, wo es viele Sekundarschulen mit 13 Schuljahren als Alternative gibt, verkündet man stolz die geglückte Verabschiedung des Doppelabiturjahrgangs an den Gymnasien.