Aus einem Silo in Engstingen sind eineinhalb Millionen Liter Gärsubstrat ausgelaufen, die Brühe hat Keller und ein Restaurant überflutet. Wie das Leck entstand, ist unklar. Laut dem Umweltministerium hätte die Anlage nicht betrieben werden dürfen.
Engstingen - Der Geruch des Unglücks wird Anja Wolfframm noch lange verfolgen. „Es stinkt furchtbar“, sagt die 37-Jährige, die ihren Augen nicht trauen wollte, als sie am Mittwochmorgen einen braunen Strom auf ihr Hotel zufließen sah. „Es ist wie ein Albtraum. Plötzlich stand die Brühe im Restaurant bis unter die Decke.“ Schon viermal seien das Hotel Hydepark und das dazugehörige Restaurant im Engstinger Gewerbepark Haid in den vergangenen Jahren überschwemmt worden. „Bisher war es immer der Starkregen“, sagt Wolfframm, „jetzt ist es Gärbrühe, das geht an unsere Existenz.“
Aus dem Silo einer Biogasanlage sind am Mittwochmorgen eineinhalb Millionen Liter einer übel reichenden Flüssigkeit ausgelaufen und haben das Gewerbegebiet regelrecht geflutet. Ein Angestellter hatte gegen 5 Uhr am Morgen den Schaden bemerkt und die Feuerwehr alarmiert. Mehr als 100 Einsatzkräfte waren bis Mittwochabend gegen 23 Uhr unter Atemschutz damit beschäftigt, vollgelaufene Keller leer zu pumpen, Straßen freizuspritzen und Gebäude zu säubern. Hilfe erhielten sie von Landwirten, die mit ihren mobilen Güllewagen anrückten. Sie karrten die Brühe in die Grube eines Bauern in Trochtelfingen.
Keine Gefahr für Anwohner
Das Landesumweltministerium sieht trotz des Unfalls keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf. Die Vorschriften reichten aus, die Betreiber müssten sie aber auch einhalten, sagte ein Sprecher des Ministeriums unserer Zeitung. Nach seinen Angaben war die Anlage in Engstingen wegen baulicher Mängel noch nicht durch den Landkreis Reutlingen als Genehmigungsbehörde abgenommen worden und hätte deshalb nicht betrieben werden dürfen. Dies bestätigt auch der Reutlinger Landrat Thomas Reumann auf einer Pressekonferenz am Donnerstagabend. „Der Behälter hätte nicht befüllt werden dürfen.“ Die schriftlich angemahnte Mängelbeseitigung sei nicht erfolgt. Über die versicherungsrechtlichen Konsequenzen wollte Reumann nicht spekulieren. Eines sei klar: „Es ist mit Sicherheit keine kleine Schadenslage. Das Ganze wird teuer.“
Dass Biogasanlagen ein Sicherheitsrisiko darstellen, zeigte eine landesweite Überprüfung durch die Gewerbeaufsicht zwischen März 2013 und Februar 2015. Fast jede zweite der 721 kontrollierten Anlagen hatte Mängel. Besonders häufig wurden ungenehmigte bauliche oder die Leistung der Anlagen erhöhende Änderungen festgestellt.
„Fehler auf allen Ebenen“
„Die Probleme bei Biogasanlagen sind erheblich“, sagt Roland Fendler, ein Experte für die Sicherheit von Biogasanlagen beim Bundesumweltamt (UBA). „Für Schadensfälle kommen verschiedene Ursachen in Frage. Die Anlagen sind oft falsch ausgelegt oder montiert, oft werden sie auch falsch bedient.“ Es gebe „Fehler auf allen Ebenen, vom Konzept über den Betrieb bis zur Instandhaltung, vom Sicherheitsmanagement bis zur Bedienung.“, sagte Fendler.
Wie es zu dem Leck in Engstingen kam, ist unklar. Die Polizei hat Ermittlungen aufgenommen. Laut der Feuerwehr besteht momentan keine Gefahr für die Anwohner. Unbedenklich sind auch die Ergebnisse der ersten Wasserproben, wie Stefan Brockmann, der Leiter der Abteilung Gesundheitsschutz beim Reutlinger Landratsamt, versichert. Allerdings sei es möglich, dass die Trinkwasserversorgung von dem Unglück betroffen sei. Ein Teil des Substrats sei in den Boden gesickert, und zwar genau dort, wo sich eine unterirdische Wasserscheide befinde. „Im schlimmsten Fall aber hätte das Wasser ein Geschmäckle“, erläutert Brockmann. Gesundheitsgefährdend sei das nicht. Dennoch stehe für den Fall der Fälle eine Ersatztrinkwasserversorgung bereit.
Geringe Mengen an mit Gärsubstrat verunreinigtem Abwasser sind bereits in die Seckach gelangt. Für den Landrat Reumann eine unglückliche Folge. „Genau das wollten wir eigentlich verhindern.“ Doch die Kapazität des Regenüberlaufbeckens, das die Brühe hätte aufnehmen sollen, sei zu gering gewesen. Flussabwärts in der Lauchert bei Gammertingen habe man am Donnerstag fünf tote Fische entdeckt. Ein Fischsterben in größerem Ausmaß sei allerdings nicht zu erwarten. Die Untersuchungen der Gewässer laufen.
„Das ist eine Tragödie für unseren Gewerbepark“, sagt der Bürgermeister Mario Storz. Vor 25 Jahren wurde der Gewerbepark auf dem früheren Militärgelände gegründet. Vor einem der einstigen Kasernenbauten sitzt Joachim Erbe und schrubbt Schaufensterpuppen. Bei einer Ausstellung sollen ihnen die Uniformen württembergischer Regimenter übergezogen werden, die im Ersten Weltkrieg im Einsatz waren. Das wird wohl noch funktionieren. „Die Puppen sind ja aus Plastik.“
Spezialfirma räumt auf
Größere Sorgen macht sich der Vorsitzende des örtlichen Militärmuseums-Vereins um 30 Bücher, die er in einem Kellerraum der Kaserne gelagert hatte. Mit Gummihandschuhen und warmem Wasser versucht er, sie Seite für Seite zu säubern. „Das sind über 100 Jahre alte Artefakte“, sagt Erbe. „Und jetzt ist alles voll Gülle.“
Die meisten anderen überschwemmten Räume werden ein Fall für Profis sein. Eine Spezialfirma aus Düsseldorf wurde mit den Aufräumarbeiten betraut. Ob der Gestank wieder aus den Räumen verschwindet? Der Bürgermeister weiß es nicht. „Wir müssen auf jeden Fall alles wegschmeißen“, sagt Ralf Stoll, der in seinem Keller Reinigungsmittel eingelagert hatte. Die Mieter des Nachbarkellers habe es allerdings noch schlimmer erwischt. Fünf Motorräder sind dort untergestellt. Eckart Lorch steht mit Weste und T-Shirt vor dem Kellerzugang und vergräbt seine Hände in den Hosentaschen. Einmal sei er mit seiner Enduro sechs Monate lang durch Afrika gefahren, von Tunesien bis Kamerun, erzählt der 57-Jährige. Aber so schlimm wie jetzt habe seine Maschine noch nie ausgesehen. Die Brühe sei über die Straße geschwemmt worden, in die Lichtschächte gesickert, dann seien die Kellerfenster zerborsten. Bis zur Decke stand der Schlamm im Keller.
Bauliche Mängel
Für Anja Wolfframm und ihre Familie wird die Überflutung weitreichende Konsequenzen haben. „Wir werden das Hotel und unser Restaurant Per Du sicherlich mehrere Monate schließen müssen.“ Die Feuerwehr habe die Brühe beim Öffnen der Fenster in sämtliche Räume getragen, überall seien braune Spuren. In der einst gemütlich eingerichteten holzverkleideten Gaststube sei zwar die nach Ammoniak riechende Brühe abgepumpt worden, aber unter dem Boden sitze noch der ganze Dreck. Allen Gästen für die nächsten Wochen hätten sie schweren Herzens abgesagt, auch ein geplantes Krimidinner am Wochenende sei natürlich gestrichen.
Nur lobende Worte hat Wolfframm für die Helfer übrig. Die Feuerwehr habe einen prima Job gemacht, sich gut um alles gekümmert. Auch der Engstinger Bürgermeister Mario Storz sei schon vorbeigekommen und habe seine Unterstützung angeboten. „Er ist der Mann der Stunde, er hat für jeden ein offenes Ohr.“ Wolfframm, die Gummistiefel und einen alten Anorak trägt, hat ihren Humor trotz der Misere nicht verloren. „Am coolsten haben unsere Hotelgäste reagiert. Die haben sich das Spektakel der Feuerwehr angeschaut und waren ganz gelassen, obwohl es ausnahmsweise kein Frühstück gab.“