Süße Früchte und knackiges Gemüse auf allen Ebenen: In Waldgärten kann auf mehreren Etagen geerntet werden. Sie sollen jetzt in Städten entstehen – als eine weitere Form des Urban Gardening.

Wochenend-Magazin: Markus Brauer (mb)

Berlin/Stuttgart - Gemeinschaftliches Gärtnern in der Großstadt liegt im Trend. Potsdamer Forscher wollen jetzt eine weitere Form etablieren: urbane Waldgärten. „Sie sind die Zukunft des Urban Gardening“, ist die Umweltwissenschaftlerin Jennifer Schulz von der Universität Potsdam überzeugt.

 

Auf einem Gelände im Süden Berlins, das derzeit vom Park „Britzer Garten“ genutzt wird, will sie mit Freiwilligen einen rund 5000 Quadratmeter großen Waldgarten anlegen, bewirtschaften und das Projekt wissenschaftlich begleiten. Weitere Städte sollen folgen.

Urban Gardening 2.0: Waldgärten als neuer Trend

„Ein Waldgarten besteht vorwiegend aus essbaren Pflanzen, die sich in mehreren Vegetationsschichten teilweise überlappen, ganz ähnlich der Struktur von Wäldern“, erklärt Schulz. Obst- und Nussbäume, Beerensträucher, Gemüse und Kräuter sollen langfristig miteinander angebaut und geerntet werden können.

Was das Konzept unter anderem ausmache, sei die Langfristigkeit, erklärt die Forscherin. Sie plane für mindestens 30 Jahre. Außerdem vereine ein Waldgarten auf relativ kleiner Fläche viele Nutzpflanzen, die sich bei geschickter Planung gegenseitig bereichern und schützen.

Im heißen Sommer sorge das Blätterdach zudem für Schatten und Kühle – ein Plus in Zeiten des Klimawandels. Ein weiterer Vorteil: Durch abgestorbene Pflanzenteile entstehe eine dichte Humusschicht, die Bodenfeuchte halte. Außerdem seien Waldgärten Nahrungsquelle und Lebensraum für Insekten, Vögel und kleine Säugetiere. „Das Konzept kommt aus den Tropen, aber auch in Europa gibt es bereits Waldgärten“, so Schulz, die auch für die Internationale Gartenausstellung in Berlin-Marzahn 2017 einen solchen Garten angelegt hat.

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Urbanes Gärtnern liegt im Trend

Das urbane Gärtnern verzeichnet in Deutschland seit zehn Jahren ein kontinuierliches Wachstum „Man kann davon ausgehen, dass die Zahl der urbanen Gartenprojekte schon bei über 1000 liegt“, sagt Christa Müller, Vorstandsvorsitzende der Münchner Stiftung „Anstiftung“, die bundesweit urbane Gärten und ein Netzwerk dazu fördert.

„Vielen Projekten, bei denen in Kisten und Hochbeeten gegärtnert wird, sind ökologische Grenzen gesetzt. Das Konzept der Waldgärten geht darüber hinaus und bietet die Möglichkeit, in den Boden zu gehen“, betont Christa Müller. Waldgärten könnten helfen, eine gewisse Dauerhaftigkeit zu garantieren und die Flächen vor einer Bebauung zu schützen.

Noch befindet sich das vom Bundesamt für Naturschutz geförderte Projekt in Berlin in der Entwicklungsphase. Schulz und Kollegen organisieren derzeit Workshops mit Interessierten. Läuft alles nach Plan, kann 2021 begonnen werden. Geeignete Flächen zu finden sei eine der größten Schwierigkeiten, so die Wissenschaftlerin. Berlin sei ein Glücksfall gewesen. Dort sollen auf rund 2,8 Hektar ohnehin neue Gartenflächen entstehen – als Ausgleich für Kolonien, die dem Ausbau der Autobahn 100 weichen mussten.

Gärten strotzen vor Biodiversität

„Gärten strotzen vor Biodiversität“ (biologische Vielfalt), erläutert Karl Hammer, Professor für Agrarbiodiversität an der Universität Kassel. Sie seien eine unendlich reiche „ökologische Schatztruhe“. Allerorten ist von der neuen Lust auf Grün zu lesen. Gartenschauen und Gartenmessen sind Publikumsmagnete.

Die Buchhändler haben kaum noch Platz in ihren Regalen, um all die Neuerscheinungen an Gartenbüchern und Ratgebern unterzubringen. Hochglanzmagazine wie „Landlust“, „Mein schönes Land“ oder „Schöner Garten“ verbreiten den Garten-Virus unters Volk. Auch die Ausgaben für Pflanzen und Gartenzubehör – vom Grill bis zur Sonnenliege – steigen stetig.

Das Glück ist grün

Der Deutschen liebstes Hobby erfasst alle Schichten und Altersgruppen. . Mehr als 15 Millionen Bundesbürger graben, mulchen und mähen an mehreren Tagen im Monat, vier Millionen zumindest einmal monatlich.

Die Zeiten, dass Schrebergärten als Spießeroasen verschrien und Gartenarbeit als öde Pflichtveranstaltung abgetan wurden, sind längst vorbei. Heute schätzt sich jeder glücklich, der ein Stück Natur ins Häusermeer der Großstädte holen kann. Was neumodisch als „Urban farming“, „Urban gardening“ und „Urban imkering“ bezeichnet wird, ist Ausdruck eines Lebensgefühls, das mehr ist als ein schnell verblühender Modetrend und hipper Zeitgeist.

Freude am Garten

„Die Freude am Garten ist die größte Erfrischung des menschlichen Geistes“, schrieb der englische Philosoph und Naturliebhaber Francis Bacon im Jahr 1625. Die Liebe zum Garten ist schon lange kein Privileg der Briten mehr. Rund 16 Millionen Hausgärten und eine Million Schrebergärten gibt es hierzulande – mit einer Gesamtfläche von 6800 Quadratkilometern, was 1,9 Prozent der Fläche Deutschlands entspricht.

„Das Glück ist grün“, fasste die Wochenzeitung „Die Zeit“ die wachsende Begeisterung für das eigene grüne Idyll einmal zusammen. Dahinter verbirgt sich eine breite Gegenbewegung zur unaufhaltsamen Technisierung und Digitalisierung unseres Lebens. Im Alltag sind viele wie festgeklebt an Bürostühlen, Autositzen und Sofas. Gartenarbeit wirkt da für gestresste Gemüter wie eine Befreiung aus zivilisatorischen Zwängen und eine geerdete Psychotherapie.

Schinderei im Garten

Dass ein Garten auch Schinderei bedeuten kann, davon zeugen die Blasen, Striemen und wunden Stellen nach dem Rosenschneiden, Heckescheren oder Herbstputz. Ganz zu schweigen von den Rückenschmerzen, wenn Steine für die Natursteinmauer herangekarrt oder Stauden- und Zierpflanzen ins Beet eingegraben werden müssen.

Immer mehr Städter sehnen sich zurück nach der Ursprünglichkeit der Natur, ohne auf die Annehmlichkeiten der Zivilisationen verzichten zu wollen. „Man will einen urbanen Lebensstil, aber weder auf den Konsum reduziert sein noch auf Natur verzichten“, erklärt Christa Müller, Autorin des Buches „Urban Gardening. Über die Rückkehr der Gärten in die Stadt“ geschrieben. Was urbanen Bewohnern im Umgang mit Pflanzen so guttue, sei die Begegnung mit der lebendigen Natur. „Sie ist zum einen ein nichtmenschliches Gegenüber, und zum anderen ermöglicht sie eine intensive Begegnung mit uns selbst“, betont die Soziologin.

Gartenarbeit – das beste Anti-Stress-Programm

Gartenarbeit ist das beste Anti-Stress-Programm und Selbstverwirklichungslabor, das der Fantasie keine Grenzen setzt. Wenn die Tomaten reifen, Rittersporn und Pfingstrosen ihre Blütenknospen wie durch Zauberhand über Nacht öffnen, fühlt man sich an den dritten Tag der biblischen Schöpfungsgeschichte erinnert. „Das Land brachte junges Grün hervor, alle Arten von Pflanzen, die Samen tragen, alle Arten von Bäumen, die Früchte bringen mit ihrem Samen darin. Gott sah, dass es gut war“ (Genesis 1, 12). Nachdem der Mensch nach dem Sündenfall aus dem Paradies vertrieben wurde, versucht er es mit Hacke, Schaufel, Rasenmäher und Heckenschere zurückzuerobern.

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„Haus- und Kleingärten sind eine Arche Noah“, sagt Thomas Wagner, Sprecher des Bundesverbands Deutscher Gartenfreunde. „Ein Garten kann Sehnsüchte erfüllen.“ Nicht nur das: Die Freude am Pflanzen und Ernten weckt auch die Kreativität und den Schaffensdrang – und inspiriert den Geist. Das Sprießen und Wachsen offenbart auf fantastische Weise das Wunder der Natur. Dem Gärtner wird eine ganz besondere Beziehung zum Leben geschenkt. Sein Garten ist ein Abbild der Natur und zugleich Teil des Ganzen, das durch seine Hände Arbeit konkret erlebbar wird.

Die Suche nach der eigenen grünen Handschrift hat etwas Philosophisches. Der französische Aufklärungsphilosoph Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) postulierte einen Menschen, welcher den Einklang mit der Natur und mit sich selbst sucht. Die Zivilisation habe alles „entartet“, „erschüttert“, „entstellt“. Zurück zur Natur! lautet deshalb Rousseaus Parole.

Der norwegische Philosoph Arne Naess (1912–2009), einer der Begründer der Tiefenökologie, propagiert ein ganzheitliches Denken, das ein Leben in Einklang mit der Natur zum Ziel hat. Alle Lebewesen seien wertvoll und benötigten den Schutz vom Menschen, so Naess. Deshalb müsse dieser sich seiner Rolle als „Bewahrer“ oder „Zerstörer“ seiner eigenen Welt und Lebensgrundlagen bewusst werden. Wo können Erwachsene und Kinder dieses Öko-Bewusstsein besser erlernen als im eigenen Grün?

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Guerilla-Gardening und Hobby-Gärtner

Gartenarbeit ist gelebte Philosophie und verwirklichte Ökologie. Gärten sind Fluchtpunkte vor der Alltagshektik, Rückzugsorte und Horte der Erholung. „Ort der Selbstfindung und Selbsterfahrung“, nennt sie der amerikanische Literaturwissenschaftler Robert Harrison.

Für den Autor des tiefgründigen Buchs „Gärten. Ein Versuch über das Wesen den Menschen“ ist die Hege und Pflege des Grün eine zutiefst menschliche Entfaltungsmöglichkeit und die Wiege aller Kultur. „Gärten bringen uns dazu, die lebendigen Dinge, ja das Leben selbst wahrzunehmen.“ Harrisons Fazit: Im Garten findet der Mensch zu sich selbst.

Die neue Garten-Lust lässt die ungewöhnlichsten Formen der grünen Begeisterung sprießen. So verwandeln sogenannte Guerilla-Gärtner vernachlässigte Verkehrsinseln und Brachflächen in den Städten in urbane Oasen. Anders als die Hippies der 1960er und 1970er Jahre, die von abgeschiedenen Landkommunen träumten, wollen die grünen Piraten Großstädte wie Berlin, New York oder London als lebenswerte Umwelt wieder erfahrbar und erlebbar machen. Trotz ihrer unkonventionellen Methoden haben sie mit konventionellen Hobbygärtnern viel gemeinsam. Vor allem die Leidenschaft fürs Buddeln und Pflanzen.