Der flüchtige Gangster hat es zum Helden der Pariser Vorstadtjugend gebracht. Gutachter bescheinigen ihm Mut, Intelligenz, Charisma und Führungsqualitäten. Unser Paris-Korrespondent Axel Veiel erzählt seine Geschichte.

Paris - Er liebt Filme. Sie inspirieren ihn zu neuen Taten. Manche hat er ein Dutzend Mal gesehen. „Heat“ von Michael Mann zum Beispiel. Wenn der 41-jährige Franko-Algerier Redoine Faïd sich das eigene Ende ausmalt, hat er bestimmt die Schlussszene des Films vor Augen: den Showdown zwischen Gangsterboss Neil McCauley (Robert de Niro) und Polizeichef Vincent Hanna (Al Pacino), der die tödliche Kugel abfeuert, dann aber respektvoll die Hand des Sterbenden ergreift, der ihm ein ebenbürtiger Widersacher gewesen war.

 

Faïd braucht nicht viel Fantasie, um sich in die Filmschurken hineinzuversetzen. Der Mann mit den vollen Lippen, den dichten Brauen und dem kahlen Schädel ist Gangsterboss im richtigen Leben. Wie McCauley hat er es zu gewissem Ruhm gebracht. Mit elf Geschwistern in einem Mietskasernenviertel des nordfranzösischen Creil aufgewachsen, hat der Sohn algerischer Einwanderer mit dreisten Raubüberfällen Schlagzeilen gemacht. Pariser Vorstadtjugendliche schauen zu ihm auf. Er sei einer der ihren, sagen sie, nur besser.

Spektakuläre Flucht aus dem Gefängnis von Lille

Als Faïd sich vor einem Monat dann noch den Weg aus dem Gefängnis von Lille frei sprengte und fünf Tore in Schutt und Asche legte, die den Weg nach draußen verstellten, schlug die Bewunderung in Verehrung um. „Faïd ist eine lebende Vorstadtlegende, vergleichbar mit dem Fußballer Zidane“, versichern Sozialarbeiter aus Creil. Die Wochenzeitung „Minute“ titelt: „Redoine Faïd – neues Idol der Jugend“.

Die Polizei hat den Flüchtigen europaweit zur Fahndung ausgeschrieben. Faïd wird versuchen, sich zurückzunehmen, unscheinbar, am besten unsichtbar zu sein. Eine Rolle ist das, die ihm nicht liegt. Lieber gibt er den gebildeten Gentleman. Die Beinamen „Doc“ und „Schriftsteller“ hat er sich zugelegt. Bei einem Israel-Aufenthalt hat er Hebräisch gelernt – für den Spross einer arabischen Familie ein abenteuerlicher Schritt. Dass ein Zeuge den Gesuchten in Monaco auf der Terrasse des noblen Café de Paris gesehen haben will, passt ins Bild.

Wenn Faïd auszog, Geldtransporter zu überfallen oder Millionäre zu erpressen, pflegte er Filmhelden nachzueifern. Alte Drehbücher kamen zu neuen Ehren. Wie in Quentin Tarantinos „Wilde Hunde“ gaben sich Faïd und seine Gefolgsleute Farbnamen, nannten sich Monsieur Orange oder Monsieur Blau, als sie 1995 die Familie eines Bankdirektors kidnappten. Wie in „Heat“ trugen Faïd und seine Männer Eishockey-Masken, als sie am 3. Juli 1997 einen Wagen der Firma „Ardial“ angriffen und 412 000 Euro erbeuteten.

Aber dann stirbt eine Polizistin

Nachdem der Gangsterboss acht Jahre lang immer wieder entkommen war, wurde er 1998 festgenommen und 2003 zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Anfang 2009 öffneten sich für ihn allerdings schon wieder die Gefängnistore. Faïd wurde wegen guter Führung entlassen – und organisierte die nächsten Verbrechen. So minutiös er sie zu planen pflegte, eines der letzten ist ihm offenbar außer Kontrolle geraten: Im Mai 2010 kam bei einem Raubüberfall eine Polizistin ums Leben. Faïd beteuerte seine Unschuld, wurde im Juni 2011 gleichwohl festgenommen und blieb bis zu seiner spektakulären Flucht am 13. April hinter Gittern. Und so deutet einiges darauf hin, dass die nächste Haftanstalt ein Hochsicherheitstrakt sein wird und die nächste Anklage auf Mord lauten wird – wenn es dazu kommt.

Hält man sich an den Gerichtspsychiater Xavier Masson, hätte Faïd keineswegs auf die schiefe Bahn geraten müssen. Schauspielerisch begabt, hätte er sich auch als Filmgangster einen Namen machen können. Masson bescheinigt Faïd nicht nur „Charme, Charisma, Intelligenz, Mut, Reaktionsschnelligkeit und Führungsqualitäten“. Der Experte attestiert ihm auch die Fähigkeit, diese Gaben einzusetzen, um „Mitmenschen zu täuschen, sie zu manipulieren, bis sie tun, was er wünscht“.

Erfolgreich den Musterhäftling gemimt

Hinzuzufügen wäre: in jüngster Zeit hat Faïd diese Gaben besonders erfolgreich eingesetzt. Wenn er, zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt, nach knapp sechs Jahren freikam, dann weil er überzeugend den Musterhäftling mimte. Er diskutierte über Literatur, schrieb selbst ein Buch („Der Räuber – Von den Vorstädten zum großen Banditentum“), gelobte feierlich, sein „Leben in Ordnung zu bringen“. Nach der Rückkehr ins Gefängnis bereitete er mit der ihm eigenen Akribie den Ausbruch vor. Faïd hortete ins Gefängnis geschmuggelten Sprengstoff in Papiertaschentuchpackungen, tat in der Zelle ein Versteck für die ebenfalls eingeschleuste Pistole auf.

In den Morgenstunden des 13. April schritt der als „gebildet, lebensfroh und sympathisch“ geschilderte Häftling zur Tat. Die Waffe in der Hand, nahm er im Besuchszimmer einen Wärter als Geisel, sprengte sich den Weg in den Innenhof frei, nahm drei weitere Geiseln, arbeitete sich mit Hilfe der Sprengsätze zum Patrouillengang voran und erreichte nach 15-minütiger Flucht den Parkplatz der Haftanstalt, wo ein Komplize im Auto wartete. Zehn Kilometer weiter erlangte auf der Stadtautobahn von Lille die letzte Geisel die Freiheit.

Von Faïd fehlt seitdem jede Spur – vom angeblichen Café-Besuch in Monaco einmal abgesehen. Die Fahnder versuchen auch in Creil fündig zu werden, wo der Gesuchte 40 Kilometer nördlich von Paris zur Welt kam und aufwuchs. Sie durchforsten Kindheit und Jugend des Flüchtigen nach Anhaltspunkten für seinen Verbleib. So kam etwa heraus, dass Faïds Mutter starb, als er 18 Jahre alt war, und der Vater sich im selben Jahr nach Algerien absetzte. Die zwölf Kinder schlugen sich fortan allein durch. Ob Faïd am Ende ein Drehbuch an der Hand hat, das für einen flüchtigen Gangsterboss ein Happy-End vorsieht?