Es muss eine übermenschliche Anstrengung gewesen sein: im Jahr 2000 hat John Eliot Gardiner in Europa und den USA sämtliche Bach-Kantaten aufgenommen. Ein Jahrhundert-Projekt – auch wenn nicht jede einzelne der 56 CDs gelungen ist.

Lokales: Hans Jörg Wangner (hwe)

Stuttgart - Große Reisen, ob sie nun aus religiösem Antrieb als Pilgerfahrt angetreten werden oder aus purer Abenteuerlust, haben einiges gemeinsam: sie erfordern Energie, Mut, Können – und Risikobereitschaft. Das Scheitern reist immer mit, ob nun als reales Ereignis oder als theoretische Gefahr.

 

Eine solche Reise, ein solches Mammutunternehmen hat der Dirigent John Eliot Gardiner mit dem Monteverdi Choir und den English Baroque Soloists im Bach-Jahr 2000 bewältigt: er hat sämtliche erhaltenen Kirchenkantaten in 52 Wochen aufgeführt und aufgenommen, jede Woche in einer anderen Kirche, in Deutschland, Italien, Großbritannien, in den USA. Einzeln schon länger erhältlich, sind die 56 CDs jetzt für begrenzte Zeit in einer in schlichter Eleganz gestalteten Box erhältlich.

Spekulationsobjekt für Melomanen

Man braucht kein Prophet zu sein, um vorherzusagen, dass der schwarze Quader mit den exotischen Porträts des Magnum-Fotografen Steve McCurry zu einem Spekulationsobjekt für Melomanen und die Box zu einem Mehrfachen des Ladenpreises im Internet angeboten wird. Ob der Dirigent allerdings durchweg der Weisheit letzten Schluss bei den sämtlichen Kantaten von Johann Sebastian Bach vorgelegt hat, steht auf einem anderen Blatt.

Kein Zweifel: John Eliot Gardiner, der kürzlich seinen 71. Geburtstag gefeiert hat, ist einer der herausragenden Interpreten des Thomaskantors. Er gehört zu der Generation von Dirigenten, bei denen das Dicke, das Sämige, das leicht Angestaubte längst keinen Platz mehr hat in der Aufführungspraxis. Gardiner lebt die Erkenntnisse der schon gar nicht mehr so neuen Praxis der historisch Informierten, er bevorzugt zügige, frische Tempi und klare Phrasierungen.

Maßstäbe gesetzt

Das fängt mit dem prächtigen Entree „Christen ätzet diesen Tag“ (BWV 63, CD 1) an. Es fährt in der atemberaubenden Transparenz in BWV 125 („Mit Fried und Freud fahr ich dahin“, daraus „Ein unbegreiflich Licht“, CD 8) fort. Bietet aufregende Arien wie „Seht, seht! Wie reißt, wie bricht, wie fällt“ (BWV 92: „Ich hab in Gottes Herz und Sinn“, CD 9). Rührt mit „Christ lag in Todesbanden“ (BWV 4, CD 13) und setzt, um die Aufzählung etwas pauschal abzukürzen, Maßstäbe mit den CDs 25, 26 und 27 (unter anderem mit den Kantaten „Ihr Menschen, rühmet Gottes Liebe“, BWV 167, „Christ unser Herr zum Jordan kam“, BWV 7 und „O Ewigkeit, Du Donnerwort“ BWV 20).

Viel Licht – aber auch Schatten

Dazu kommen die kleinen Repertoire-Überraschungen, die Gardiner in sein Reiseprogramm aufgenommen hat: das dritte Brandenburgische Konzert etwa (wenn auch mit einem bedauerlicherweise recht unaufgeräumten Orchester), die Motette „Der Geist hilft unserer Schwachheit auf“, Heinrich Schütz’ „Die Himmel erzählen die Ehre Gottes“ oder Johann Christian Bachs „Fürchte dich nicht“. Und die überaus farbige Kantate „Nach dir Herr, verlanget mich“ (BWV 150), die von dem Bach-Forscher Alfred Dürr als Frühwerk von zweifelhafter Qualität und Herkunft abgetan wird, hat John Eliot Gardiner sogar zweimal einspielt.

Doch wo so viel Licht ist, darf der Schatten nicht verschwiegen werden. Da ist zunächst die Frage, ob sich Bachs Kantaten, die ja in erster Linie eine spirituelle, eine religiöse Angelegenheit sind, für so ein sportliches Großunterfangen wie die Aufnahme en suite und en gros eignen. Ein theologischer Nebenaspekt ist dabei die Tatsache, dass sich Gardiner am kalendarischen und nicht am Kirchenjahr orientiert hat: statt mit dem ersten Advent beginnt er mit dem ersten Weihnachtsfesttag.

Zum Steinerweichen vibrierende Sopranistin

Natürlich ist es eine logistische Meisterleistung sondergleichen, ein Jahr lang auf zwei Kontinenten die ausführenden Musiker zu organisieren – von der intellektuellen Herausforderung einmal ganz zu schweigen. Allerdings halten speziell die Gesangssolisten dieses Niveau nicht alle durch. Hier ein pelzig-dumpfer Bass („Ein ungefärbt Gemüte“, BWV 24, CD 30), da eine zum Steinerweichen vibrierende Sopranistin („Warum betrübst du dich, mein Herz?“, BWV 138, CD 41), dann noch eine zum Glück vom Orchester zugedeckte Altpartie („Wer mich liebet, der wird mein Wort halten“, BWV 74, CD 22).

Und es kommt noch etwas anderes hinzu: die grundsätzliche Herangehensweise eines Dirigenten an Bach. Um es mit einer gewissen Zurückhaltung zu sagen: der religiöse Hintergrund steht offenbar in direktem Zusammenhang mit der Interpretation, wie sich auch in anderen Gesamtaufnahmen zeigt.

Hat ein Helmuth Rilling etwa eine pietistische, ins Betuliche neigende Diktion, so sind Ton Koopman und sein sehr achtbarer Kollege Pieter Jan Leusink eher calvinistisch klar, in der Tendenz stets ein bisschen verhalten. Und der gläubige Protestant Masaaki Suzuki, der sich für seinen beispielhaften, allerdings noch nicht als Box erschienenen Zyklus annähernd zwei Jahrzehnte Zeit nahm, vermittelt uns sein Bach-Bild sehr analytisch, mit einer sachlichen Leidenschaft für die ungeheure Vielfalt des Werkes.

Opernhafte Diktion

Der Engländer Gardiner hingegen bringt immer wieder eine anglikanische Note ins Spiel, soll heißen: einen katholischen Einschlag, eine opernhafte Diktion, einen theatralischen Druck, der dem geistlichen Werk nicht unbedingt guttut. Ein Stück weit ist das natürlich auch Geschmackssache. Doch für einen überzeugten Protestanten kann das die Grenze zwischen Wohl und Wehe sein.