Die neue Gastronomie im Roetbühlzentrum wartet mit einer Besonderheit auf: Im Rudolfs arbeiten seit November auch psychisch Kranke in Stuttgarts größten Inklusionsprojekt. Das Stadtmuseum will ein ähnliches Konzept verfolgen.

Familie/Bildung/Soziales: Viola Volland (vv)

Stuttgart - Plötzlich ist es voll im Rudolfs. Eben haben nur vereinzelt Menschen an den Holztischen gesessen, Milchkaffee getrunken und Zeitung gelesen. Doch nun besetzt eine Gruppe Damen, deren Volkshochschulkurs zu Ende gegangen ist, den Großteil der Tische. Es wird gelacht, sich unterhalten – in der Gastronomie des Treffpunkt Rotebühlplatz’ ist es auf einen Schlag lauter geworden.

 

Johanna S. stört das Stimmengewirr nicht. „Mir macht das nichts aus“, sagt die 53-jährige Mitarbeiterin gelassen. Selbstverständlich ist das nicht. Johanna S. ist psychisch krank und es hat eine Zeit gegeben, in der sie nicht in der Lage gewesen wäre, in einem öffentlichen Gastronomiebetrieb zu arbeiten. Johanna S. leidet an einer bipolaren Störung: „Mal bin ich himmelhochjauchzend, dann zu Tode betrübt“, erklärt sie. Dennoch habe sie jahrzehntelang immer perfekt funktioniert, sagt die ehemalige chemisch-biologische technische Assistentin, die im Rudolfs an der Essensausgabe, an den Buchungsterminals und im Service im Einsatz ist.

Das Rudolfs ist Stuttgarts größtes Inklusionsprojekt

Johanna S. ist eine von zwölf psychisch Kranken, die im ersten Stock des Treffpunkt Rotebühlplatz arbeiten. Das Rudolfs ist das aktuell größte Inklusionsprojekt in Stuttgart – Träger ist das Rudolf-Sophien-Stift (RSS), das zuvor vor allem für seine Werkstätten bekannt war. Ein integrativer Gastronomiebetrieb bedeutete Neuland für das RSS. Zudem war der Zeitplan extrem eng. „Das Tempo, in dem alles laufen musste, war schon bemerkenswert“, sagt der Betriebsleiter Dominik Moarefi. Inzwischen habe sich aber alles eingespielt.

„Wir machen hier totale Gastronomie“, betont Moarefi. Von 9 bis 23 Uhr ist geöffnet – Frühstück, Mittagstisch, das italienische Gebäck zum Kaffee – alles wird selbst zubereitet. Dazu setze man auf regionale Produkte aus biologischem Anbau sowie auf viele vegane und vegetarische Angebote. Der Kaffee und ein Teil der Weine wird von Behindertenwerkstätten bezogen. „Wenn nicht wir das machen, wer dann“, fragt der 45-jährige Böblinger.

Viele bemerken ihre Erkrankung nicht

Gar nicht so einfach sei es gewesen, das gelernte Fachpersonal zu gewinnen. „Da muss man auch eine soziale Intelligenz mitbringen“, sagt Moarefi. Schließlich sollen die 15 Fachkräfte den psychisch kranken Mitarbeitern Sicherheit geben. Er ist „begeistert“ mit wie viel Liebe jeder einzelne zu Werke gehe. Natürlich gebe es auch Fehlzeiten, weil sich der eine oder andere mal rausziehen müsse. Von Autismus über Borderlinestörung bis zur Depression seien alle Krankheitsbilder vertreten.

Vielen merke man aber gar nicht an, dass sie psychisch krank seien, sagt Moarefi. Bei Johanna S. würde man tatsächlich nicht darauf kommen – so gestanden und selbstbewusst wie sie auftritt. Doch 2009 war sie, nach der Trennung von ihrem Mann und Mobbingproblemen im Job zusammengebrochen. Auf einen Suizidversucht folgten Klinikaufenthalte und Therapien, dann die berufliche Rehabilitation im Stuttgarter Rudolf-Sophien-Stift. Seit drei Jahren nimmt sie Medikamente, die sie im Gleichgewicht halten. Zuerst arbeitete sie in der Handbuchbinderei-Werkstatt, nun also in der Gastronomie. „Es gefällt mir hier, ich kann den Leuten etwas geben und sie freuen sich darüber“, sagt sie über ihre Arbeit im Rudolfs. Wichtig sei ihr aber zu wissen: wenn sie wollte, könnte sie zurück in die Werkstatt, in den geschützten Raum.

An die nächsten Projekte wird schon gedacht

Dominik Moarefi ist überzeugt, dass es den Rehabilitanten gut tut, mitten drin im Leben zu sein, statt am Rand. Das Rudolfs plant bereits zu expandieren. Auch Catering wolle man bald anbieten, kündigt er an – erste Gespräche mit dem neuen Hospitalhof laufen, der Ende April eröffnet.

Gute Chancen dürfte das Rudolf-Sophien-Stift auch bei einer anderen wichtigen Institution in Stuttgart haben. Anja Dauschek, die das Stadtmuseum im Wilhelmspalais leiten wird, hat inzwischen grünes Licht für ihr integratives Konzept. Das Besondere: nicht nur im Café, sondern im gesamtem Besucherservice, an der Infokasse, bei der Aufsicht und im Shop sollen zur Hälfte psychisch kranke Menschen arbeiten. Wegen des großen Volumens muss der Auftrag europaweit ausgeschrieben werden. „Für mich ist das auch eine wichtige Botschaft seitens der Stadt – zu sagen, wir schaffen in diesem Bereich Arbeitsplätze“, sagt Anja Dauschek – und das an prominenter Stelle und nicht irgendwo versteckt. „Natürlich“ habe sie sich auch das Rudolfs angesehen.

Vergleichbares Angebot in der Stadtbibliothek

Das Stadtmuseum, das 2017 eröffnen soll, wäre die dritte Institution, die einen integrativen Ansatz in der Gastronomie wählt. Den Anfang hat die Stadtbibliothek gemacht, deren Café Lesbar von der Caritas betreut wird. Hier arbeiten Menschen mit Behinderung. Eine Entscheidung, die „genau das richtige für die Stadtbibliothek“ war, wie die Sprecherin Meike Jung meint. „Die Mitarbeiter sind total glücklich und die Besucher sind dankbar“, schließlich habe es vorher kein Café gegeben.

Auch im Treffpunkt Rotebühlplatz sind die Gäste froh, dass der Leerstand im ehemaligen Café Punktum vorbei ist. „Es fördert den Zusammenhalt der Kurse, wenn man sich danach zusammen setzen kann“, sagt zum Beispiel Gisela Deinhardt, die es „sehr gut“ findet, dass das Rudolf-Sophien-Stift betraut wurde. „Man merkt den Leuten an, dass sie es gerne machen“, sagt die Besucherin. Im Hintergrund schreibt Johanna S. mit einem weißen Stift die Tagessuppe auf ein Schild: Karotten-Orangen-Cremé-Suppe. Danach geht sie zum Terminal der Essensausgabe. Unter den silbernen Deckeln dampft es schon. Die hungrigen Gäste können kommen.