Weshalb der Sternekoch Michael Oettinger den Gastro-Trend „New Glocal“ längst lebt – und was das mit Heilbutt und dem Mangel an grobkörnigem Senf zu tun hat.

Rems-Murr: Sascha Schmierer (sas)

Die Corona-Krise war noch nicht vorbei, als mit dem Ukraine-Krieg auch über die Gastronomie ein existenzbedrohender Mix aus explodierenden Energiekosten und in ungeahnte Höhen schießenden Lebensmittelpreisen hereinbrach. Ein Gespräch mit dem Sternekoch Michael Oettinger über den Trend zu mehr Nachhaltigkeit in der Küche, den Preis für die Martinsgans und den Mangel an grobkörnigem Senf.

 

Spürt die Gastronomie die Konsumflaute? In den Wochen vor Weihnachten brummte das Geschäft im Hirsch in Schmiden. Das lag vor allem an Firmen, die ihrer Belegschaft nach der Corona-Zwangspause vor dem Fest ein paar schöne Stunden bieten wollten. „Die Unternehmen buchen zwar viel kurzfristiger als früher, haben die pandemiebedingte Zurückhaltung aber abgelegt“, sagt Michael Oettinger. Zu merken sind dünner werdende Geldbeutel in der Weinstube Schnitzbiegel. Erstens geht mancher Gast inzwischen seltener Essen als früher. Und zweitens wird statt eines Rostbratens jetzt durchaus mal nur eine Bratwurst bestellt.

Trifft das auch die Gourmetküche? Im 2017 vom Michelin ausgezeichneten Sternerestaurant gelten andere Regeln als im Wirtshaus um die Ecke. Denn die Klientel, die sich Gourmetküche gönnt, kann sich den kulinarischen Genuss auch leisten. Anders ausgedrückt: Wer fürs Fünf-Gänge-Menü nebst Weinbegleitung dreistellige Beträge auf den Tisch legen kann, hat nicht unbedingt die Sorge, im Januar in einer kalten Wohnung zu sitzen. Eine Rolle spielt durchaus auch, dass es unterm Kappelberg nach dem Abschied von Philipp Kovacs und Armin Karrer nur noch eine Küche auf Sterne-Niveau gibt. Michael Oettinger kann durchaus neue Gäste begrüßen, die früher im Goldberg oder im Avui getafelt hätten – und ist in seinem Restaurant in der Regel auch unter der Woche ausgebucht.

Verändert Kostendruck die Speisekarte? „Es gibt Kollegen, die mittlerweile kein Rindfleisch mehr auf der Karte haben, weil sie die gestiegenen Einkaufspreise nicht an den Gast weitergeben können“, sagt der Sternekoch. Bei Michael Oettinger selbst ist die traditionsreiche Martinsgans der Preisentwicklung zum Opfer gefallen. Weil für ein Kilo der im Oldenburger Freiland gepflegten Vögel statt zwölf plötzlich 18 Euro verlangt wurden, entschied sich der Gastronom lieber zum Verzicht. Gerupft, gefüllt und gebraten hätte sich der Preis für eine Portion nämlich bei knapp 60 Euro bewegt – weit über der Schmerzgrenze der zahlenden Kundschaft.

Worauf achtet Oettinger beim Einkauf? Dass es vor allem bei frischem Fisch mitunter einen Engpass gibt, ist für die Profis am Herd nichts Neues. Auch ein in der Weihnachtszeit halb leer gekauftes Regal für Mandeln war in der Vergangenheit mal zu sehen. Gewöhnen muss sich die Gastronomie aber, dass vermeintliche Allerweltsprodukte zeitweise nicht lieferbar sind. „Grobkörniger Senf ist seit Wochen nicht zu haben“, nennt Oettinger ein Beispiel – und spricht von auch im Großhandel nicht mehr funktionierenden Lieferketten: „Uns fällt jetzt auf die Füße, dass selbst Äpfel aus Übersee kommen.“

Wird „New Glocal“ da zum Mega-Thema? Den Wandel zur regionalen Ausrichtung des globalisierten Lebensmittelhandels geht der Hirsch in Schmiden längst mit. Statt aus Neuseeland kommt das Lamm bei Oettinger von der Alb, sein Schweinefleisch bezieht er schon seit Jahren aus Hohenlohe. „Da habe ich nicht nur zuverlässige Qualität, sondern kann mir auch sicher sein, dass die Tiere von der Aufzucht über die Schlachtung nicht so hirnrissig viel Kilometer auf der Uhr haben“, sagt der Sternekoch. Neu ist, dass Oettinger auch die Eier für den Spätzlesteig künftig lieber bei Landwirt Wolfgang Bürkle in der Nachbarschaft als im Großhandel kaufen wird – und beispielsweise auch beim Fisch umdenkt. Statt dem als Wildfang aus dem Meer gezogenen Steinbutt steht inzwischen ein in Bayern gezüchteter Stör auf der Karte.

Haben die Gäste da Erklärungsbedarf? Dass der Fisch aus nachhaltiger Zucht stammt, erklärt das Servicepersonal der Kundschaft. Das Interesse ist groß – und passt zum Trend, dass Storytelling und der Wunsch nach transparenten Bezugsquellen den Gästen immer wichtiger werden. Wer gut essen geht, will wissen, was auf den Teller kommt. Ein Beispiel ist das Gänseherz, das aktuell im „Oldschool“-Menü zum Einsatz kommt – im Dörrapparat getrocknet und im Mörser fein zerrieben, dient es in Pulverform als natürlicher Geschmacksverstärker. Jeder fünfte Gast bestellt inzwischen das vegetarische Menü – entweder aus Neugier, ob ein Sternekoch auch mit Gemüse etwas anfangen kann oder mit dem Gedanken an Gesundheit, Klimaschutz und Tierwohl.

Was ist mit anderen Gastro-Moden? Vom in der Branche ebenfalls als Mega-Trend gehypten „Veganizing“ hält Oettinger ebenso wenig wie vom Algenburger oder in der Pfanne geschmorten Insekten. Auch Ersatzfleisch kommt dem Gastronomen nicht auf den Tisch. „Wenn ich mit Hülsenfrüchten wie Linsen oder Erbsen arbeiten kann und mir mit verschiedenen Getreidesorten etwas einfallen lasse, brauche ich nichts aus dem Reagenzglas“, sagt er. Das hat nicht nur mit der Skepsis des Sternekochs zu tun, was die Qualität industriell produzierter Ware angeht. Michael Oettinger ist auch der Überzeugung, dass es bei Lebensmitteln beim Handwerk bleiben sollte: „Ein ehrliches Stück Fleisch ist mir lieber, aber eben nicht täglich, sondern nur dreimal die Woche.“

Und was gibt’s zu Weihnachten? Der ultimative Kulinarik-Tipp fürs Fest lautet: Wirklich für die Gäste da sein, sich Zeit nehmen fürs Essen, kein Stress – und nicht nur in der Küche stehen. Bei Oettinger gibt’s eine gefüllte Kalbsbrust mit Kartoffelgratin und Gemüse – nichts, was einen am Kochtopf wirbeln lassen müsste. „Auch meine Schwiegermutter weiß inzwischen, dass mich ein Schweinsbraten glücklicher macht als ein Parfait aus dem Thermomix“, sagt der Vater von drei Kindern. Eingeplant für das Essen sind übrigens gut zwei Stunden, erst danach gibt’s Bescherung.