In Frankreich grassiert das Sterben der Bistros. Antialkoholkampagnen und Rauchverbot haben die Kundschaft drastisch dezimiert.
11.04.2010 - 14:49 Uhr
Allein im Großraum Paris haben im vergangenen Jahr 2000 dieser urfranzösischen Kneipen dichtgemacht. Die Untergangsszenarien ähneln einander: Die Gäste bleiben aus, der Umsatz bricht ein, irgendwann reichen die Einnahmen nicht mehr, um die Pacht und das Personal zu bezahlen. Zumal die Jugend sich abwendet. So mancher Schüler, Lehrling oder Student sitzt lieber in einem der properen Starbucks Coffee mit kostenlosem W-Lan-Anschluss für seinen Laptop als auf wackeligen Barhockern am Tresen eines bierdunstverhangenen Bistros mit schmuddeligen Toiletten.
Alkohol am Steuer kein Kavaliersdelikt mehr
Die Antialkoholkampagnen und das Rauchverbot haben die Kundschaft drastisch dezimiert. Bereits zum 1. Januar 2008 hatte der Gesetzgeber die Zigaretten aus den Gaststuben verbannt. Anderthalb Monate später meldete die Bistrobranche einen Besucherrückgang von sechs Prozent. Das Meinungsforschungsinstitut TNS Sofres fand heraus, dass vor allem die Stammkunden wegbleiben, "diejenigen, die siebenmal oder öfter in der Woche zu kommen pflegten". Vorbei auch die Zeiten, da sich der Bistrogast mit ein paar Pastis im Leib ans Steuer seiner Ente setzte, dem Gendarmen verschmitzt zublinzelte und davonbrauste. Längst ist Alkohol am Steuer auch in Frankreich kein Kavaliersdelikt mehr. Die Kontrollen sind zahlreich, die Strafen drakonisch.
Während Paris freilich noch immer über einen ansehnlichen Bistrobestand verfügt, ist die Provinz deutlich schlechter dran. Und für Fontenay-Saint-Père gilt: wenn im hochverschuldeten Bistro die Lichter ausgehen, wird es duster in diesem Dorf. Der letzte Ort, an dem gesellschaftliches Leben gedeihen kann, ist diese Kneipe. Wer sie betritt, darf daran teilhaben.
Während Letouzey seinem greinenden Baby auf einer Holzbank die Flasche gibt, erläutert der 31-jährige Scratch-Musiker Julien vom Sofa aus geduldig die Kunst des rhythmischen Kratzens auf Schallplatten. Am Tresen zählt ein Getränkelieferant in grünem Overall die Tageseinnahmen, stopft das Geld nachdenklich nickend in eine Plastiktüte. Ein Frührentner studiert an Bretter gepinnte Fotos und Ansichtskarten. Sie zeigen Grimassen schneidende Kneipengäste, weiße Strände und grüne Berge. Im Gastraum hängende Elektrogitarren künden von den musikalischen Vorlieben des Bistrobesitzers.
"Wie daheim, nur besser"
Aus dem Gläserregal quellende Rubbellose verführen zum Glücksspiel, auf dem Kühlschrank thronende Vereinspokale schüren den Lokalpatriotismus. "Hier ist es wie daheim, nur besser", sagt der 27-jährige Alexis, ein Freund Juliens.
Ein kunterbuntes Wohnzimmer scheint dieser Raum mit den ausgewaschenen Fliesen und der holzgetäfelten Wand zu sein - und nicht nur er. Frankreichs Bistros sind die "Wohnzimmer der Nation", wie die Psychologin und Soziologin Monique Eleb sagt. Und weil ihr eine französische Nation ohne Wohnzimmer armselig vorkommt, ruft sie nach Rettung. Sie appelliert an den Staat, fordert Subventionen, "nicht für alle Bistros, aber für diejenigen, die in dieser Gesellschaft mit immer mehr einsamen Menschen eine soziale Aufgabe erfüllen".
Eine Dorfkneipe sei einer der wenigen Orte, an denen jeder mit jedem rede, wo die "gesellschaftliche Durchmischung" funktioniere, hat Eleb festgestellt. Da könne man einen Malier, einen Algerier und einen Kambodschaner an einem Tisch beim Spiel erleben. Das Bistro sei genauso wichtig wie ein Sportzentrum oder eine Gemeindehalle, die ja auch mit öffentlichen Geldern finanziert würden.
Der Staat auf dem Rückzug
Ein Gang durch Fontenay-Saint-Père dürfte Eleb ernüchtern. Der Staat ist auf dem Rückzug. Die Post öffnet seit dem 9. Januar nur noch einmal die Woche: samstags von 9 bis 12 Uhr. Die Fensterläden sind verschlossen. An den Gitterstäben nagt der Rost. Dem Busfahrplan ist zu entnehmen, dass der Ort nur noch viermal täglich angefahren wird, zweimal morgens, zweimal abends und das auch nicht an allen Tagen.
Auf den Staat will sich der Wirt Letouzey denn auch lieber nicht verlassen. Martine Maimbourg, die Bürgermeisterin, habe nicht wirklich helfen wollen, erzählt der Kneipier. Aber die Bürger wollen es durchaus. Sie gehen für ihr Bistro auf die Barrikaden. Denis Bérard, der Pfarrer des kleinen Dorfes, stürmt vorneweg. Das "Fontenoy" sei "kein Ort des Besäufnisses", versichert der Seelsorger und preist die "familiäre Atmosphäre" des Bistros. Im Gottesdienst hat sich der Geistliche öffentlich für die Kneipe verbürgt.
Ermutigt durch so viel Rückendeckung hat Valéry Letouzey ein Spendenkonto eingerichtet. Nach drei Tagen waren 287 Euro zusammengekommen. Inzwischen sind es 2200 Euro. Auch aus den Nachbargemeinden, sogar aus Deutschland, der Schweiz und Italien, ist Geld eingetroffen. Julien und seine Band mit dem Namen "Strs" geben Solidaritätskonzerte. "Wenn das Bistro dichtmachen würde, verkäme der Ort zur Schlafstadt", sagt Julien.