Gastspiel in Stuttgart Popsongs, Lohengrin und der Holocaust

Will nicht nur musizieren, sondern auch Wissen vermitteln: Daniel Grossmann Foto: / Thomas Dashuber

An diesem Freitag (4. April) präsentiert das Jewish Chamber Orchestra Munich im Stuttgarter Schauspielhaus „Jewish Pop“. Daniel Grossmann, Gründer und Dirigent, hat sich mit seinem weltweit einzigartigen Ensemble vorgenommen, die jüdische Kultur bekannter zu machen.

Ist Wagner koscher? Ein Musiker aus einem osteuropäischen Schtetl hört den „Lohengrin“ – und will fortan nur noch diese Klänge hören und spielen. Den Konflikt, der daraus entsteht, hat Evgeni Orkin zu einem „Klezmer-Singspiel“ gemacht, und „Mendele Lohengrin“ gehört zu den Erfolgsprojekten eines weltweit einzigartigen Ensembles. Jewish Chamber Orchestra Munich nennt sich eine Gruppe von Musikern, die seit 2005 – erst unter dem Namen Orchester Jakobsplatz München, der an den Standort der dortigen Synagoge erinnerte – mit Musik die jüdische Kultur bekannter machen will. 2023 hat das Ensemble mit einem Abend am Schauspiel Stuttgart an den von den Nationalsozialisten ermordeten Komponisten Józef Koffler erinnert. Bei seinem zweiten Stuttgarter Gastspiel geht es um „Jewish Pop“.

 

Zugegeben, ganz korrekt ist dieser Titel nicht. Am Freitagabend werden Jelena Kuljić und Damian Rebgetz zwar Songs von Popstars singen, deren jüdische Herkunft vielen gar nicht bekannt sein dürfte; die Beastie Boys sind darunter, The Clash oder Amy Winehouse. Das Orchester wird dazu aber eine Begleitung spielen, die nicht Crossover sein will, sondern vom Arrangeur Matthias Schaff bewusst klassisch gehalten ist. „Zeitgenössische klassische Musik trifft auf Pop“: So formuliert es der Gründer und Dirigent des Jewish Chamber Orchestra Munich, Daniel Grossmann – und erwartet sich von diesem Programm einen ähnlichen Erkenntnisgewinn und Publikumszuspruch wie vom Projekt „Jewish Jazz“, bei dem sich das Ensemble mit Werken von George Gershwin und Darius Milhaud beschäftigte, also mit der Zusammenarbeit von jüdischen Komponisten mit der African American Community in der frühen Phase des Jazz.

Das Jewish Chamber Orchestra Munich ist ein Haufen von Freelancern mit einem festen Kern, es hat etwa 25 bis 30 Auftritte pro Jahr. Foto: Robert Brembek

Das Jewish Chamber Orchestra Munich sperrt sich allerdings nicht selbst ins Getto. In seinen Konzerten spielt es auch Werke nichtjüdischer Komponistinnen und Komponisten, und die Besetzung des Orchesters ist ebenfalls sehr gemischt. Die jüdische Herkunft hier und dort sei ihm, sagt Grossmann, tatsächlich nie wichtig gewesen: „Entscheidend ist, dass wir uns mit jüdischen Themen beschäftigen.“ Natürlich fühlt sich sein Orchester jüdischen Komponierenden verpflichtet, deren Werke viel zu selten aufgeführt werden und die eine große Qualität haben. Mieczysław Weinberg, Erich Wolfgang Korngold und Erwin Schulhoff gehören dazu, außerdem Fanny Hensel, die hochbegabte Schwester von Felix Mendelssohn, „da haben wir einiges in Bewegung gebracht“. Aber „wir machen keine Konzerte aus vier Stücken, die schön sind und irgendwie in der Länge passen, und wir suchen Musik nicht aus, weil sie jüdisch ist, sondern weil wir mit ihr etwas über unsere Gegenwart erzählen wollen“. Und, so ergänzen wir, um mit ihr möglichst viele Menschen zu erreichen. Von den Zielen des Orchesters künden schon die standardisierten Schlagworte bei den Erläuterungen zu den einzelnen Konzerten auf der Homepage: „Jüdisch“, „Heute“ und „Für alle“. Klarer geht’s nicht.

Aber warum ausgerechnet Deutschland? Pragmatisches Kriterium: Die deutsche Politik fördert das Orchester – zwar nicht so wie große Klangkörper, aber doch deutlich stärker als Ensembles von vergleichbarer Größe. Und: „Ich bin in Deutschland geboren“, sagt Daniel Grossmann, „ich fühle mich der deutschen Kultur stark verbunden und merke, dass es in Deutschland eine große Diskrepanz gibt zwischen Menschen, die sich stark für die jüdische Kultur einsetzen, und anderen, die ein Problem damit haben.“ Gerade der zweiten Gruppe müsse man Angebote machen. Wissen vermitteln. Und so viele Geschichten gebe es doch zu erzählen: zum Beispiel über das sehr spezielle jüdische Trauerritual, das sich über ein ganzes Jahr hinzieht, über die Musik in der Synagoge, „die geht so sehr ans Herz“. Und dann die osteuropäische jüdische Volksmusik jenseits der Giora-Feidman-Klezmer-Klischees. Man kommt an kein Ende, auch jenseits der Themen, die mit der Verfolgung der Juden und mit dem Holocaust zu tun haben – und die, natürlich, „etwas mit einem machen, wenn man aus einer jüdischen Familie stammt“.

Das Jewish Chamber Orchestra Munich ist ein Haufen von Freelancern mit einem festen Kern, es hat etwa 25 bis 30 Auftritte pro Jahr. Außerdem bietet es auf einer ambitionierten interaktiven E-Learning-Plattform Informationen zum Musikleben im Konzentrationslager Theresienstadt – ein Angebot, das allerdings nicht so stark nachgefragt wird, wie es sich Daniel Grossmann erträumte.

Immerhin darf sich das Ensemble seit Kurzem als Residenzorchester der Münchner Kammerspiele bezeichnen. Viele gemeinsame Projekte mit Ensemblemitgliedern haben dafür den Grundstein gelegt. Und die Tatsache, dass die Kammerspiele vor einem Jahrhundert von reichen jüdischen Mäzenen gegründet und unterstützt wurden und außerdem mitten in der Aufarbeitung ihrer eigenen Geschichte mitsamt der Verfolgung von Schauspielerinnen und Schauspielern im Nationalsozialismus stecken, schafft eine weitere Brücke.

Aber zurück zum Anfang, denn eine Frage ist noch offen: „Ist Wagner koscher?“ Das, sagt Daniel Grossmann, sei die falsche Frage; präziser müsse sie lauten, in welcher Form man Wagner spielen solle. „Bei Kanye West“, so der Dirigent, „weiß ich nicht, warum man seine Musik noch aufführen sollte. Aber Wagner hat Niveau. Andererseits hat Wagner nicht einfach nur gesagt, ich mag die Juden nicht, sondern er hatte ein komplett antisemitisches Weltbild. Darüber wollen wir aufklären, bevor wir Musik von ihm spielen – und dem Publikum so ermöglichen, sich seine eigene Meinung zu bilden.“

Jewish Chamber Orchestra Munich

Stuttgart
Die zweite Aufführung des neuen Konzertprogramms „Jewish Pop“ mit Songs u. a. von Amy Winehouse, Randy Newman, den Beastie Boys, Lisa Loeb, The Clash, Lenny Kravitz, Billy Joel und Troye Sivan findet am 4. April um 19.30 Uhr im Schauspielhaus statt. Karten unter www.schauspiel-stuttgart.de oder telefonisch unter 07 11 / 20 20 90

Jubiläum
Sein 20-jähriges Bestehen feiert das Ensemble am 15. Mai um 20 Uhr im Münchner Cuvilliéstheater: Daniel Grossmann dirigiert Werke von Max Bruch, Felix Mendelssohn, Jacques Offenbach, Ilse Weber, Kurt Weill, Mieczyslaw Weinberg und Paul Ben-Haim. Karten unter www.muenchenticket.de

Mehr
Das Klezmer-Singspiel „Mendele Lohengrin“ ist u. a. am 19. 5. In der Jüdischen Gemeinde Mannheim zu erleben, das Programm „Die wilden Mendelssohns der 1920er“ am 4. Juni in den Münchner Kammerspielen. Karten: www.jcom.de.

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