Der Bundespräsident Joachim Gauck hat sich in seiner mit Spannung erwarteten Rede im Schloss Bellevue für „mehr Europa“ stark gemacht. Bei vielen heiklen Fragen blieb er aber vage.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Berlin - Einhundertsechsundachtzig Glühbirnen erhellen den Großen Saal des Schlosses Bellevue. Aber sie reichen nicht aus, den Hausherrn ins rechte Licht zu rücken. Die Fernsehsender haben extra grelle Scheinwerfer aufgebaut. Und die Hauptperson selbst, Bundespräsident Joachim Gauck, hat alles unternommen, damit eine angemessene Aufmerksamkeit gewährleistet ist. Seit fast einem Jahr wartet die Nation auf eine große Rede. Ausgerechnet er, der erste gelernte Prediger im ranghöchsten Staatsamt, ist sie bisher schuldig geblieben. Natürlich hat er seit seiner Wahl am 18. März 2012 viel geredet und viel Kluges gesagt. Aber das heikelste, komplexeste, und dennoch bestimmende Thema der aktuellen Politik spielte bei all den Gelegenheiten allenfalls am Rande ein Rolle.

 

Schon in den ersten Tagen seiner Amtszeit hatte Gauck andere Erwartungen geweckt. Mehrfach ist von ihm die Mahnung überliefert, dass die Politik in Zeiten der Krise „Europa besser erklären“ müsse. Das war auch eine Art Selbstverpflichtung. Der Präsident hat sich lange Zeit gelassen, ihr gerecht zu werden. Es ist nicht gerade so, dass er nie ein Wort verloren hätte über Europa und seine Perspektiven. Aber eine Grundsatzrede ist nie daraus geworden. Dann hatte er sie für Januar terminiert. Sie wurde noch einmal verschoben. Und schließlich waren die Erwartungen in einem Maße gewachsen, dass Gauck ihnen niemals gerecht werden konnte. Das schien ihm selbst in den letzten Tagen, bevor er diese Rede tatsächlich nun zu halten gedachte, zunehmend bewusst zu werden.

So viel Europa war nie

Im größten Saal des präsidialen Schlosses hängen zwei Gemälde, von denen keiner so genau weiß, was sie eigentlich zeigen sollen. Fest steht nur: ihre Farbstimmungen sind sehr widersprüchlich. Gaucks Rednerpult ist an diesem Freitag vor dem tristeren der beiden Bilder aufgebaut: mit etwas Fantasie zeigt es einen Himmel, an dem bedrohliche Gewitterwolken aufgezogen sind.

„So viel Europa war nie“, sagt Gauck zu Beginn seiner Rede. Er beschreibt Europa zunächst so, wie es die meisten der von ihm repräsentierten Bürger wahrnehmen: aus der Euro-Perspektive – als Krisenfall. Er listet die mannigfachen Vorurteile und Ressentiments auf, die sich mit Brüssel verbinden. Und er bekennt, selbst einer gewissen Desillusionierung unterlegen zu sein. „Wir wollen mehr Europa wagen“ hatte er in den Anfängen seiner Präsidentschaft gesagt. Jetzt räumt er selbstkritisch ein: „So schnell und gewiss wie damals würde ich es heute nicht mehr formulieren.“

Gauck plädiert für ein „europäisches Deutschland“

Aber es spricht hier kein Euroskeptiker. Es spricht ein Mann, der sich selbst „der Europäer Gauck“ nennt. Er verbindet mit dieser Rede „nicht den Anspruch, das Rad neu zu erfinden“, heißt es auf der Chefetage von Bellevue. Er wolle „dem Rad aber einen neuen Schwung geben“. An dieser Rede haben viele mitgeschrieben – Gauck selbst natürlich. Er ist es gewohnt, Predigten zu verfassen. Bis zuletzt hat er am Text gefeilt. In diesen seien auch die Destillate von Gesprächen mit kritischen Köpfen eingeflossen. Der Präsident hat sich mit klugen Leuten beraten, etwa mit dem Historiker Heinrich August Winkler, der gerade dabei ist, eine Geschichte über das Projekt des Westens zu vollenden. Auch der Soziologe Ulrich Beck, ein Kritiker der Europa-Politik Angela Merkels, zählte zu Gaucks Inspiratoren. Kritik an der Kanzlerin findet sich in der Rede nicht.

Andere, welche diesem Präsidenten ins Amt verholfen haben, dürfen sich hingegen angesprochen fühlen – Leute wie Markus Söder und alle in der CSU zum Beispiel, deren einschlägige Äußerungen zur Eurokrise „vereinzelt zu wenig Empathie für die Situation der anderen“ erkennen ließen oder „wie Kaltherzigkeit und Besserwisserei“ geklungen haben. Gaucks Anliegen ist es, Ängste vor einer deutschen Vormacht, gar einer Germanisierung Europas zu zerstreuen. „Mehr Europa heißt für uns: europäisches Deutschland“, so übersetzt das der Bundespräsident. Unter dem Applaus des Publikums wendet er sich an die Bürger Großbritanniens: „Wir möchten Euch weiter dabei haben“, sagt er. „Ihr habt mit Eurem Einsatz im Zweiten Weltkrieg geholfen, unser Europa zu retten – es ist auch Euer Europa.“

„Mehr gelebte und geeinte Vielfalt“

Mehr Europa, das heißt für Gauck mehr Freiheit und Toleranz, mehr Schutz gegen Unfrieden, Unfreiheit und Unrecht, „mehr gelebte und geeinte Vielfalt“. Was das aber konkret bedeutet, bleibt in Gaucks Rede an vielen Stellen vage. Er spricht von einer „weiteren inneren Vereinheitlichung“, bleibt aber die Antwort schuldig, wie man sich das vorzustellen hat. Er redet davon, dass „auch die Nationalstaaten nichts natürlich Gewachsenes und nichts Ewiges“ seien, verzichtet aber darauf, näher auszuführen, was das für die Zukunft der Europäischen Union bedeuten könnte. Er macht sich dafür stark, dass die europäische Integration von den Bürgern bestimmt werden sollte, verschweigt aber, was er von europaweiten Plebisziten hält, von mehr Rechten für das EU-Parlament.

Beinahe rührend sind Gaucks eigene Vorschläge für ein besseres Europa. Er diagnostiziert eine „unzureichende Kommunikation“ innerhalb des Staatenbundes und fordert deshalb eine gemeinsame EU-Sprache: „Beheimatung in der Muttersprache und ihrer Poesie und ein praktikables Englisch für alle Lebenslagen“. Damit wird der CDU-Mann Volker Kauder dementiert. In Europa soll nicht mehr Deutsch gesprochen werden, wie er es für richtig hält, sondern mehr Englisch. Außerdem plädiert der Präsident für eine „europäische Agora“ – ein Forum für den transnationalen Gedankenaustausch soll das wohl sein. Joachim Gauck übersetzt es selbst mit fünf Worten: „etwas wie Arte für alle“.