Acht Ensemblemitglieder von Gauthier Dance haben im Theaterhaus Stuttgart in „Out of the box IV“ eigene Choreografien präsentiert und keine gleicht in diesem Programm der anderen.

Stuttgart - Wie hart Tänzer täglich arbeiten, damit ihr Köper ausdrücken kann, was von ihm erwartet wird, das ist bekannt. Wie sehr sie darüber hinaus über das Leben nachdenken und Formen zu finden versuchen, diese Gedanken für andere Menschen sichtbar zu machen – das haben acht Mitglieder des Theaterhaus-eigenen Ensembles Gauthier Dance am Sonntagabend deutlich gemacht. Bereits zum vierten Mal hat der Chef des Ensembles Eric Gauthier mit dem Format „Out of the box“ den Rahmen dafür geschaffen, eine Plattform, auf der die Ensemblemitglieder eigene Choreografien vorstellen können.

 

Und sie haben die „Box“ mit großem Einfallsreichtum gefüllt. Keine Choreografie gleicht in diesem Programm der anderen. Was gar nicht so selbstverständlich ist. Denn wer täglich zusammen trainiert und Stücke erarbeitet, könnte sich von seiner Tanzsprache her auch einander angleichen. Das ist hier aber ganz und gar nicht der Fall. Schön ist es vielmehr zu sehen, wie es sich die Ensemblemitglieder untereinander ermöglichen, die Ideen der anderen zu realisieren, selbst wenn dies viel Kondition erfordert. Einige sind fast den ganzen Abend über auf der Bühne. Und trotzdem strahlt aus ihren Augen unbändige Freude und Energie, als der Applaus des Publikums zum Schluss nicht mehr enden will.

Die Überlistung der menschlichen Anatomie

Ein Teil dieser leichten und heiteren Stimmung ist vielleicht dem letzten Stück des Abends mit seiner positiven Grundstimmung geschuldet: Florian Lochners „Wan-del-bar“. Er hat sich möglicherweise von Zaubershows inspirieren lassen. Amüsant ist es jedenfalls, wie aus einem großen, mit schwarzem Tuch bespannten Kasten immer wieder menschliche Körperteile herausragen – an Stellen freilich, an denen man sie nach Kenntnis der menschlichen Anatomie nicht erwartet hätte. Wenn Lochner dann zusammen mit Caroline Fabre und Juliano Nunes Pereira heraustritt, das Trio verschiedene Formen von Verschlingungen und Hebungen auslotet, ist das so liebenswert wie ästhetisch.

Zuvor hat Maria Prat Balasch eine eindrucksvolle Vorstellung als Choreografin und Solistin gegeben. Sie nennt ihr Stück „Veste’n“. Es ist der kürzeste Beitrag des Abends – aber einer der überzeugendsten. Die Musik von Philip Kannicht lässt immer wieder Energie in ihren Körper schießen, für welche die Tänzerin bemerkenswerte Bewegungsformen findet. Manchmal scheint sie in das schmale Lichtband auf der Bühne zu greifen, erst ganz zum Schluss gelingt es ihr, dieses zu überqueren. Es ist ein Ausdruck dessen, dass sie die sich selbst gesetzte Grenze aus Prägungen der eigenen Geschichte überwunden hat.

Licht spielt auch in zwei weiteren Stücken eine wichtige Rolle. In Miriam Gronwalds „This side of the truth“ beispielsweise. Sie hat sich, so erzählt sie selbst, von Gedichten inspirieren lassen, die für sie eine strukturelle Ähnlichkeit mit Choreografien aufweisen. Zusammen mit Florian Lochner startet sie in einem auf den Boden projizierten Rechteck aus Licht. Sie suchen nach einem Weg, bewegen sich fort, mal alleine, dann wieder zusammen, ermutigen sich, halten zurück, finden zusammen, wagen eigene Schritte – all das zu rezitierten Versen, Saitenklang und Regengeräuschen. Elemente aus dem Vokabular der Pantomime blitzen immer wieder auf.

Jäher Wechsel der Gemütszustände

Ganz anders setzt Sebastian Kloborg in „Ways to go“ das Licht ein. Drei seiner Protagonisten finden sich am Ende ihrer Darbietung ebenfalls in einem Rechteck aus Licht. Hier drängt sich allerdings der Gedanke an einen Sarg auf. Sechs Akteure schickt Kloborg auf die Bühne, jeder von ihnen mit einem Zettel in der Brusttasche seiner Jacke. Steht darauf die eigene Geschichte? Drei Darstellende zeigen Persönliches und machen sich dadurch angreifbar. Anna Süheyla Harms wird ausgelacht, was ihr das Herz bricht; David Valencia M. will sich seiner Geschichte entledigen, sie wird ihm aber immer hinterhergetragen; und Miriam Gronwald wird gar ermordet, weil ihr knallrotes Taschentuch so ganz anders ist als das der anderen, die sie deswegen gnadenlos ausgrenzen.

Der schrägste Beitrag des Abends ist wohl „Crazy Lambs“ von David Valencia M., der die sechs Tänzerinnen von Gauthier Dance zusammen mit Juliano Nunes Pereira und einer Menge Puppen agieren lässt. Sechs Verrückte sind es, die durch den Tod eines Sohnes den Verstand verloren haben. Sie nehmen die Puppen zwischen die Zähne, wiegen sie zärtlich oder werfen sie brutal zu Boden. Der einzige Mann spielt dabei auch keine glorreiche Rolle. Den Wechsel der Gemütszustände illustriert Heile-Welt-Musik beispielsweise von Nat King Cole, die immer wieder jäh durch schier unerträglich spannungsgeladene Klangschichten von Krzysztof Penderecki konterkariert wird.

Was sich hinter der Hülle des Menschen verbirgt

Eher poetisch und humorvoll ist der Beitrag von Garazi Perez Oloriz, die sichtbar machen möchte, wie Momente des Glücks unvermittelt ins Gegenteil umschlagen können, dass man aber trotzdem nie aufgeben soll, nach Glück zu streben. Mit einem Augenzwinkern demonstriert sie das zusammen mit Maria Prat Balasch, Rosario Guerra und Florian Lochner in „A Thousand Silver Drops“. Der Gang über einen roten Teppich führt über zahlreiche Seitenereignisse, etwa auch den Bau eines Turms aus silbern glitzernden Bechern, die in hohem Bogen durch die Luft fliegen und am Boden zerschellen.

Rosario Guerra hat sich im Café inspirieren lassen zu „May-Be“, in dem er sich selbst und Miriam Gronwald aus einem Lichtkegel heraus und mit David Valencia M. in Interaktion treten lässt. Ihn interessiert, was sich hinter der äußerlich sichtbaren Hülle der Menschen verbirgt.

Das Davor und Dahinter ist auch das Thema von Anna Süheyla Harms, deren Stück „Seething Beneath“ an diesem Abend den Auftakt macht. Sie lässt acht Protagonisten, darunter sie selbst, mit einer Vorhangwand auf Rollen agieren, man weiß nie, was sich aus dem Gewimmel dahinter lösen und vor den Vorgang treten wird. Er öffnet und schließt sich, bietet die Möglichkeit zu präsentieren und zu verhüllen. Am Ende sieht das Publikum beide Seiten – was ist nun davor und dahinter? Die ergänzenden Videoeinspielungen von Irina Rubina sind ästhetisch, aber nicht unabdingbar.