Ist die Offensive Israels im Gazastreifen ein Kriegsverbrechen – oder sind die Angriffe lediglich als Selbstverteidigung zu werten? Und sind diese in ihrem Ausmaß noch verhältnismäßig? Die Rechtsgelehrten sind geteilter Meinung.

Politik/ Baden-Württemberg: Christian Gottschalk (cgo)

Stuttgart - Das Recht gaukelt einem manchmal vor präzise zu sein, hundertprozentige Antworten zu geben, unzweifelhafte Lösungen für Probleme bereit zu halten. In den seltensten Fällen entspricht das der Wirklichkeit. Am wenigsten wohl im Bereich des Völkerrechts, nach dem alle rufen, wenn irgendwo auf der Welt die Waffen knallen, die Menschen bluten und schlimmstenfalls sterben. In der jüngsten Vergangenheit wird oft nach dem Völkerrecht gerufen. Angesichts der Konflikte in Syrien, in der Ukraine und natürlich in Gaza. Die Hamas schießt aus ihrem Gebiet heraus auf Israel, und Israel schlägt zurück. Weit mehr als 1800 Menschen können nicht mehr danach fragen, ob die Raketen und Granaten, die ihr Leben abrupt beendet haben, entsprechend den Regeln des Völkerrechts geflogen sind oder nicht. Für viele andere stellt sich diese Frage durchaus.

 

Die Antworten fallen ausgesprochen unterschiedlich aus. Claus Kreß, Rechtsprofessor und anerkannter Spezialist für Völkerrecht, hat unlängst in einem Interview mit dem Deutschlandfunk detailliert beschrieben, wie der Konflikt in Gaza einzuordnen sei. Er kommt zu dem Schluss, dass derzeit keine Anhaltspunkte für israelische Kriegsverbrechen zu erkennen seien. Wohl aber sieht er diese auf Seiten der Hamas. Kreß ist kein ideologisch Verblendeter. Er hat die Bundesregierung beraten, als es darum ging, den Internationalen Strafgerichtshof zu gründen. Seine Dissertationsschrift handelt vom Selbstverteidigungsrecht der Völker.

Die Hamas-Raketen sind ein Verstoß gegen Völkerrecht

Mehr als 140 internationale Rechtsgelehrte sind allerdings auch keine Traumtänzer. Diese Völkerrechtsexperten – Professoren, Richter und Anwälte – haben Israel angesichts der aktuellen Gaza-Offensive schwere Menschenrechtsverletzungen an der gesamten palästinensischen Bevölkerung vorgeworfen. Zu der Gruppe zählen die beiden früheren UN-Berichterstatter für die besetzten Palästinensergebiete, Richard Falk und John Dugard, sowie der ehemalige Genfer Völkerrechtsprofessor und Richter Georges Abi-Saab. Interessantes Detail am Rande: Es sind Juristen aus den USA und aus Schweden, aus Italien und Costa Rica, aus Sri Lanka und den Niederlanden, die den Aufruf unterzeichnet haben. Aus Deutschland hat lediglich Nahed Samour unterschrieben – „doctoral fellow“ der Berliner Humboldt-Universität.

Die weit auseinanderliegenden Einschätzungen beginnen mit einer Gemeinsamkeit. Der Beschuss Israels durch die Hamas erfolgt durch Raketen, die aus dem Gazastreifen abgefeuert werden. Das ist ein klarer Verstoß gegen das Völkerrecht, wobei es im Detail schon hier unterschiedliche Interpretationen der Sachlage gibt. Stehen sich in dem Konflikt zwei Staaten gegenüber oder trifft der Staat Israel auf nicht-staatliche Akteure? Das ist nicht einfach zu klären – es lohnt allerdings auch nicht, viel Energie auf die Beantwortung dieser Frage zu verwenden. Denn egal, ob es sich um einen internationalen oder um einen nicht-internationalen Konflikt handelt, ist die unmittelbare Folge erst einmal dieselbe. Der Abschuss der Raketen durch die Hamas ist ein klarer Verstoß gegen das Gewaltverbot, Israel hat das Recht auf Selbstverteidigung.

Israel darf sich verteidigen

Die Existenz eines Selbstverteidigungsrechtes ergibt sich aus Artikel 51 der UN-Charta. Dessen Wortlaut ist jedoch vage (siehe Kasten), die praktische Ausgestaltung der Norm haben über die Jahre hinweg Experten vorgenommen. Es gilt als allgemein anerkannt, dass ein bewaffneter Angriff Voraussetzung für ein Selbstverteidigungsrecht ist, und dass sich dieses unmittelbar an den Angriff anzuschließen habe. Es ist in diesem Zusammenhang ein kleineres Problem, wie sich der Begriff „unmittelbar“ definiert. Der Raketenbeschuss Israels durch die Hamas ist kein singuläres Ereignis, sondern ein dauerhaftes. Vernünftigerweise kann jedoch niemand behaupten, dass ein Abwarten nach der ersten Rakete zu einer stillschweigenden Duldung führt. Israel darf sich verteidigen. Die große Frage lautet: wie?

Das Zauberwort heißt Verhältnismäßigkeit. Daran, ob Israels Reaktion verhältnismäßig ist, scheiden sich die Geister. Sogar schon darüber, ob sie überhaupt verhältnismäßig sein muss, besteht keine Einigkeit. Claus Kreß – und nicht nur er – argumentiert, dass das Völkerrecht aus Sicht des Verteidigers kein Gleichmaß verlange. Und der Rechtsprofessor gibt zu bedenken, dass die aktuellen, brutalen, nackten Opferzahlen den Blick verstellen, unter welcher Bedrohung Israel seit Jahren leidet. Die Gruppe internationaler Völkerrechtler sieht das jedoch ganz anders. Sie bejaht den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz uneingeschränkt und sieht ihn durch Israel massiv verletzt. „Es ist nach internationalem Recht illegal, absichtlich und ohne militärische Notwendigkeit zivile Objekte zu zerstören“, heißt es. Die Verletzung dieser Norm könne ein Kriegsverbrechen darstellen. Die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Navi Pillay, denkt ähnlich.

Wann wird aus Selbstverteidigung ein Gewaltexzess?

Man kann die Ansicht des deutschen Völkerrechtlers teilen, wonach kein Gleichmaß der Mittel vorliegen muss. Dann aber ist zwingend die Frage zu stellen, wann ein möglicher Exzess vorliegt, der wiederum unberechtigt wäre, wann die Selbstverteidigung die Schwelle zum Missbrauch überschreitet. Man kann auch der Ansicht der internationalen Völkerrechtsexperten folgen, wonach das Zerstören eindeutig ziviler Objekte wie Wohnhäuser oder gar Schulen – seien sie von den UN betrieben oder nicht – ein Kriegsverbrechen ist. Dann aber stellt sich die Frage, was zu unternehmen noch rechtlich zulässig ist, wenn die Angriffe aus diesen zivilen Objekten heraus geführt werden. Die Antworten auf beide Fragen hängen eng miteinander zusammen.

Das Abkommen Nummer IV der Genfer Konventionen schützt die Zivilbevölkerung vor Angriffen und unmenschlicher Behandlung. Als Zivilpersonen gelten alle Menschen, die nicht den bewaffneten Kräften angehören und die nicht an den militärischen Handlungen teilnehmen. Sie dürfen niemals angegriffen werden und sind zu schonen, so steht es in Artikel 51. Wenn Israel jedoch aus zivilen Objekten heraus beschossen wird, dann können sich die Gebäude gemäß Artikel 52 der zweiten Genfer Konvention in militärische Objekte wandeln, die wiederum angegriffen werden dürfen. Zivilisten, die sich wissentlich darin befinden, verlieren ihren Schutz.

Die zivilen Schutzschilde der Hamas

Von Seiten der Hamas wird in diesem Punkt unzweifelhaft ein zweites Kriegsverbrechen begangen. Zivilisten als menschliche Schutzschilde einzusetzen, verstößt klar gegen das humanitäre Völkerrecht. Die Frage lautet nun, wie sich Israel dagegen zur Wehr setzen darf. Das Selbstverteidigungsrecht Israels bleibt nach dem zweiten Völkerrechtsverstoß der Gegenseite natürlich bestehen. Von einem Angriff abzusehen ist für Tel Aviv keine Alternative. Angesichts der zivilen Schutzschilde stellt sich das Problem der Verhältnismäßigkeit jedoch erneut – in einem noch grelleren Licht.

Ist es wirklich notwendig, sei es aus der Luft oder aus der Ferne, die Ziele ins Visier zu nehmen und dabei hohe Zahlen an zivilen Opfern einzukalkulieren? Oder gibt es auch andere Möglichkeiten? Wenn Israels Soldaten sehr gezielt am Boden verdächtige Stellungen kontrollierten und gegebenenfalls eliminierten, dann wären zivile Verluste zwar nicht auszuschließen, aber sie wären mit Sicherheit geringer. Für Israels Streitkräfte jedoch würde eine solche Aktion ungleich höhere Verluste bedeuten. Deswegen wird es weder in diesem noch im nächsten Gazafeldzug dazu kommen – ganz egal, zu welcher rechtlichen Beurteilung die Experten nach dem aktuellen Krieg auch kommen werden.

Das Problem der Ahndung

Publikumswirksam hat ein französischer Anwalt dieser Tage bereits in Paris erklärt, er habe Israel im Auftrag des palästinensischen Justizministers Salim al-Saka wegen Kriegsverbrechen im Rahmen der Gaza-Offensive vor dem Internationalen Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag verklagt. Das ist freilich nicht mehr als ein durchschaubarer Mediencoup: Das Gericht ist zwar grundsätzlich für die Ahndung von Kriegsverbrechen zuständig, allerdings nicht im Falle Israels. Ebenso wie Russland, China oder die USA hat das Land nie das Rom-Statut unterzeichnet und damit den Gerichtshof nicht anerkannt.

Theoretisch könnte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen einen Beschluss fällen, wonach sich Israel gleichwohl in Den Haag verantworten muss. Da die USA in diesem Gremium ein Vetorecht besitzen, ist es allerdings praktisch ausgeschlossen, dass solch eine Entscheidung gefällt wird.