Ägyptens Militär hat den Gazastreifen abgeriegelt. Jetzt gehen allmählich die Waren aus. Nach baldiger Rückkehr zur Normalität sieht es ganz und gar nicht aus.

Gaza - Verlassen liegt der Grenzübergang in Rafah da, am Ende von Gaza. Papierfetzen bedecken die leere Piste. Sonst tut sich nichts. In einem Straßencafé schlagen zwei ältere Männer die Zeit tot, beide sind pensionierte Schuldirektoren. „Höchstens zehn Tage lang wird Kairo den Grenzübergang dicht machen“, sagt Shaaban Oveida. Er trägt einen gestutzten Schnauzbart und blickt zu dem geschlossenen Tor nach Ägypten rüber, über dem eine schlappe palästinensische Flagge baumelt. „Wenn die Moslembrüder geschlagen sind, wird das Militärregime Schritt für Schritt wieder stabile Verhältnisse herstellen.“

 

Das klingt nach Wunschdenken. Nach baldiger Rückkehr zur Normalität sieht es ganz und gar nicht aus. Erst recht nicht nach dem Überfall auf zwei ägyptische Minibusse drüben im Sinai. Die militanten Dschihadisten haben gestern 26 Polizisten regelrecht exekutiert, ein junger Mann kämpfte am Abend noch um sein Leben.

Oveidas alter Freund und Kollege, Mohammed Abu Suhri, hält sowieso nichts von Schönreden. „Das hat sich unsere Hamas-Regierung alles selbst zuzuschreiben“, platzt es aus ihm heraus. „Sie hat einen Riesenfehler gemacht, als sie, ohne zu überlegen, ihre Karten auf Mursi gesetzt hat“ – den gestürzten ägyptischen Präsidenten. „Sie hat einfach keine politische Vision.“ Man könne den Ägyptern nicht verdenken, dass sie jetzt den Gazastreifen abriegelten. Mit Gewalt sei der Hamas nicht beizukommen gewesen, sinniert er. „Aber vielleicht mit anderen Mitteln, wer weiß.“

Die Macht der Hamas wurde erschüttert

Darauf hoffen insgeheim viele in Gaza. Nur die wenigsten können es sich allerdings leisten, so unverhohlen darüber zu sprechen wie die beiden ehemaligen Schulbeamten, die ihre Renten aus Ramallah beziehen. Der Umsturz in Ägypten hat nicht nur die Macht der Hamas erschüttert, sondern auch die Existenzgrundlagen Tausender Palästinenser ruiniert, die vom Tunnelgeschäft lebten. Die Lagerhallen in Rafah, in denen sich noch vor Kurzem die Schmuggelware aus dem Sinai bis unter die Decken stapelte, sind nahezu leer. Draußen drängen sich dutzendweise Pferdekarren, die sonst für geringes Entgelt Zementsäcke ausliefern. Zwischen den Karren hocken zur Untätigkeit verdammte Tagelöhner in der Hoffnung, doch noch einen Job zu ergattern. Die Stimmung ist gereizt.

Gaza im Wartezustand – die Ungewissheit, was wird, zerrt an den Nerven. Dabei schien bis vor Kurzem für die Hamas-Regierung alles perfekt zu laufen. Dank millionenschwerer Investitionen aus Katar hatte sogar ein Bauboom begonnen. Derzeit tut sich auf den meisten Baustellen im Gazastreifen nichts. Seitdem die ägyptische Armee die Tunnel flutet oder sprengt, kommt die Schmuggelware nicht mehr rein, auch der Waffennachschub für die Radikalislamisten bliebt aus. Das kilometerlange Grenzgebiet, untergraben von nahezu tausend unterirdischen Gängen zum Sinai hin, ist auch auf palästinensischer Seite von der Hamas zur Sperrzone erklärt worden. Ihre bewaffneten Männer schieben an einer staubigen Zufahrt Wache, den Finger immer fest am Abzug ihrer Kalaschnikows. Gewöhnliche Palästinenser wagen sich nicht mal mehr in die Nähe.

Warenschleuser Khaled hat nur noch wenig zu tun

Noch kommt Khaled über die Runden. Er ist 26 Jahre alt, hat Computertechnik studiert und früher als Warenschleuser in den Tunneln gearbeitet. Für eine Zwölf-Stunden-Schicht unter Tage bekam er 150 Schekel, etwa 33 Euro. Jetzt fährt er auf dem Moped samt Anhänger Kartons mit Lebensmitteln für 50 Schekel pro Tag aus. „Besser als nichts“, sagt Khaled grinsend, als er den knatternden Motor abstellt. Vor dem Lagerschuppen seines Onkels Ramadan Mohammed Schalah stehen nur noch ein paar Restposten.

„Wenn nichts nachkommt“, sagt Schalah, „ist hier in drei Tagen alles leer.“ Der etwas raubeinige Mann mit Drei-Tage-Bart gehört zu den rund hundert palästinensischen Importeuren, die am Schmuggelgeschäft richtig gut verdient haben. „Das waren früher noch gute Zeiten“, sagt der 48-jährige Familienvater mit glänzenden Augen. Ein Telefonanruf bei einem seiner ägyptischen Handelspartner in Scheich Aswad im Sinai habe genügt. „Schon wurden tausend Kartons mit meinen Bestellungen auf den Weg gebracht – Kartoffelchips, Kekse und Schokoriegel.“ Natürlich hätten alle dabei gut verdient. „Zum einen kassierten die Tunnelbesitzer ab, zum anderen schlug die Hamas Steuern drauf“ – feste Posten in seiner Kalkulation. „Ein ganz normales Geschäft, nur eben im Untergrund“, sagt Schalah. Inzwischen seien aber höchstens noch fünf Prozent der Tunnel offen. Entsprechend seien die Preise in die Höhe gestiegen.

Armeeoffiziere verdienen beim Schmuggel mit

Die Tunnelbesitzer verlangten bereits das Doppelte und Dreifache an Gebühren, erzählt Ali Achmed, 35, ein Importeur von Reis, Mehl, Zucker und Öl. Er hoffe nur, dass die Ägypter ein Auge zudrücken und ihnen ein paar Tunnel lassen würden, zumal einige ihrer Armeeoffiziere beim Schmuggel kräftig mit absahnten. „Sie müssen doch Gaza am Leben halten.“ Sein Geschäftsfreund Schalah winkt ab, er ist skeptisch. „Das Tunnelgeschäft hat keine Zukunft mehr. Besser wir satteln um und beziehen unsere Waren aus Israel über Kerem Schalom“ – den regulären Übergang für Warenverkehr mit Gaza.

Der Importeur Ali Achmed hätte nichts dagegen. „Hauptsache, wir haben eine Perspektive.“ Ganz vorsichtig deutet er an, dass er das auch politisch so sehe. „Ich kann der Hamas nur raten, sich endlich mit Präsident Mahmud Abbas in Ramallah zu arrangieren. Anders können wir auf Dauer nicht überleben.“

Die Hamas steckt in ihrer schlimmsten Krise

So weit reicht die realpolitische Einsicht bei der Hamas allerdings nicht. Erst allmählich dämmert ihr, dass ihre Macht nach dem Regimewechsel in Kairo tatsächlich an den Grenzen des gerade mal 45 Kilometer langen Gazastreifens endet und sich nicht auf den Sinai erstreckt. Der Hamas-Hardliner Mustafa Sawwad tönt zwar vollmundig, dass keine Armee der Welt den Waffenschmuggel auf der ägyptischen Halbinsel unterbinden könne, aber auch er schiebt gleich hinterher, man wolle auf keinen Fall eine Kollision mit Kairo riskieren.

Die Hamas steckt in ihrer schlimmsten Krise. Wie sehr, bringt der Taxifahrer auf dem Rückweg nach Gaza-Stadt auf den Punkt: „Ohne die Tunnel bleibt der Hamas-Führung doch noch nicht mal mehr ein Fluchtweg, sollte es zu einer Rebellion gegen sie kommen.“ Wie schnell so was gehen könne, habe Ägypten gezeigt.