Vertreter der Wirtschaft jonglieren mit hunderten Millionen an Folgekosten des Lokführerstreiks. Doch bei genauerem Hinsehen sind die genannten Zahlen wenig belastbar.

Korrespondenten: Thomas Wüpper (wüp)

Stuttgart -

 

Schon die Wortwahl ist problematisch. Wer die Kosten von Streiks als „Schaden“ bezeichnet, erweckt - bewusst oder unbewusst - den Eindruck, es gehe um schädliche, negative Ereignisse wie Auto- oder Bauschäden. Streiks aber sind in der Demokratie ein verfassungsrechtlich geschütztes Mittel des Arbeitskampfes. Von „Schäden“ sollte man deshalb nicht reden - auch nicht im aktuellen Lokführerstreik. Streiks sind legale Druckmittel, auch wenn sie für die Unternehmen teuer werden können.

Die Streiks im Schienenverkehr treffen allerdings einen wichtigen Bereich der Daseinsvorsorge. Wenn weniger Züge fahren, kommen Pendler nicht rechtzeitig zur Arbeit und Güter verspätet an Ziel. Lange Zeit war der Schienenverkehr - wie andere Bereiche der Daseinsvorsorge - deshalb in Deutschland streng reguliert. Lokführer waren verbeamtet und durften nicht streiken. Das war nicht billig für die Steuerzahler, doch der Schienenverkehr als wichtiges Rückgrat der Volkswirtschaft funktionierte zuverlässig. Ärger und hohe Kosten wegen Streiks gab es nicht. Mit der Bahnreform aber hat die damalige Bundesregierung 1994 die Bundesbahn in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Seither haben nur noch die bis dahin schon bediensteten westdeutschen Lokführer ihre Beamtenpflichten zu erfüllen. Alle anderen haben keine Privilegien mehr und dürfen deshalb für ihre berechtigten Interessen auch die Arbeit verweigern. Die GDL hat das genutzt und setzte schon vor acht Jahren mit massiven bundesweiten Streiks und einem wochenlangen Arbeitskampf ihren ersten eigenen Tarifvertrag durch, der nun erweitert werden soll.

Streikkosten waren schon beim letzten Streik Thema

Schon damals waren die hohen Streikkosten ein heiß diskutiertes Streitthema - auch vor den Gerichten. Der damalige DB-Chef Hartmut Mehdorn versuchte, den Arbeitskampf per Klagen unter anderem mit dem Argument zu stoppen, er sei nicht verhältnismäßig. Konkret: Die hohen Kosten für die Wirtschaft und Allgemeinheit stünden in krassem Missverhältnis zu den von den Lokführern mit dem Streik angestrebten Arbeitsverbesserungen. Doch mehrere Gerichte erteilten dem Staatskonzern eine Abfuhr und erklärten den Arbeitskampf für zulässig.

Schon damals aber waren die wirtschaftlichen Folgen bei weitem nicht so hoch wie behauptet. Die hoch angesehene Expertin Claudia Kemfert vom Berliner Wirtschaftsforschungsinstitut DIW kam später in einer Studie mit dem Ko-Autoren Stefan Kooths zum Fazit, dass die Produktions- und Einkommensausfälle des GDL-Streiks 2007 sich in „sehr engen Grenzen“ gehalten haben. Erst dann, wenn der DB-Verkehr für drei bis vier Tage „weitgehend zu Erliegen“ komme, sei mit Kosten von bis zu 70 Millionen Euro pro Tag zu rechnen. Nur im sehr unwahrscheinlichen Extremfall eines mehr als zweiwöchigen Streiks könnten es sogar 180 Millionen sein. Beide Zahlen werden von interessierter Seite gerne zitiert und verwendet.

Doch von beiden Szenarien kann auch im aktuellen Arbeitskampf bisher keine Rede sein. Zwar bestreikt die GDL den Personen- und Güterverkehr seit Anfang der Woche. Doch die Republik steht deshalb nicht still, das zeigen die Fakten. Nur noch 17 Prozent des Güterverkehrs rollen über die Schiene, also gerade noch ein Sechstel der Transporte ist überhaupt theoretisch betroffen. Doch hinzu kommt, dass die DB nur noch einen Marktanteil von zwei Dritteln am diesem Frachtverkehr auf der Schiene hat. Ein Drittel transportieren bereits rund 300 Konkurrenzbahnen - die nicht bestreikt werden und nun gerne auch DB-Aufträge übernehmen. Schon rein rechnerisch ist also allerhöchstens ein Achtel des deutschen Güterverkehrs vom GDL-Streik direkt betroffen. Das ist der Marktanteil der Deutschen Bahn.

Die Bahn fährt immer noch zwei Drittel der Güterzüge

Auch beim Staatskonzern stehen aber keineswegs alle Frachtzüge still, ganz im Gegenteil. Die DB-Tochter Schenker Rail hat selbst erklärt, dass an den Streiktagen zwei Drittel der sonst üblichen Güterzüge weiter fahren sollten. Besonders zeitkritische Güter, zum Beispiel für die Autoindustrie, werden zudem bevorzugt.

Kein Wunder also, dass bei großen Industriekunden offenkundig große Gelassenheit herrscht. „Unsere Produktion läuft“, heißt es auf Anfrage bei Daimler. Mit Schenker sei man in engem Kontakt. Je nach Situation werde man Maßnahmen ergreifen, um „jegliche Auswirkungen“ des Streiks auf die Autofabriken auszuschließen. Das klingt nicht sonderlich dramatisch. Auch in der die Stahlindustrie, dem größten Kunden der Bahn, steht bisher kein Hochofen mangels Nachschub an Kohle und Erzen still.

Alles also halb so schlimm? Im Bewusstsein vieler Bundesbürger dürfte die Schreckenszahl von 500 Millionen Euro Streikschäden, die DIHK-Präsident Schweitzer verbreiten ließ, dennoch hängen bleiben. Zumal das von den Arbeitgeber finanzierte Institut der deutschen Wirtschaft (IW) eine weitere „Schätzung“ vorlegte, wonach pro Streiktag sogar 100 Millionen Euro Kosten anfallen könnten, wenn der Ausstand der Lokführer länger als drei bis vier Tage dauere. Der Unicredit-Ökonom Andreas Rees wiederum folgerte gar, die deutsche Wirtschaftsleistung könne streikbedingt im zweiten Quartal um exakt 0,1 Prozent sinken.

Selbst bei den großen Gewerkschaften, die der GDL eigentlich nicht gerade wohlgesonnen sind, schüttelt man den Kopf über solche Aussagen. „Unsere Wissenschaftler sind der Ansicht, dass man solche Kosten seriös kaum berechnen kann“, erklärt ein Sprecher der Hans-Böckler-Stiftung. An „Spekulationen“ wolle man sich nicht beteiligen.

Beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) wiederum, auf dessen Studie von 2008 offenkundig die auch meisten derzeitigen „Schätzungen“ zu den Streikkosten immer noch beruhen, heißt es auf Anfrage, die Zahlen von damals seien nicht mehr aktuell und Rückschlüsse auf den aktuellen Streik daher wenig sinnvoll. Eine neue Studie sei nicht geplant. Das wäre aber sinnvoll - damit künftig seriöser mit dem Thema umgegangen wird und belastbarere Zahlen vorliegen.