Das Theater-Ensemble Lokstoff lässt die Geschichte(n) hinter den Stolpersteinen in Originalwohnungen von Stuttgarter Juden lebendig werden.

S-Mitte - Bilder des Lebens wandern von Hand zu Hand. Bilder des Glücks. Familienbilder mit Patina. Sie geben dem Kopfkino einen weiten Raum. Zurück in die dunkelste Zeit des Landes. Dorthin führt die sanfte Stimme von Kathrin Hildebrand. Sie lässt einen die Jüdin Hannelore Marx hören. Sie berichtet von ihren Eltern, den Kahns aus der Stitzenburgstraße 17. Von Max und Hilde, den Menschen mit einem goldenen Herz, wie die Nachbarn sagen. Sie spricht von einer glücklichen Kindheit, von guten Tagen. Kathrin Hildebrand, die Schauspielerin des Ensembles Lokstoff, zeichnet als Hannelore Marx ein Bild vollkommener Normalität einer Stuttgarter Familie. Mit all ihren Liebenswürdigkeiten und Banalitäten. Fast langweilig.

 

Wenn da nicht jeder der zwölf Zuhörer, die im Esszimmer von Andrea Richter versammelt sind, wüsste: diese Geschichte geht nicht gut aus. Die Zwölf sind zwar nur Zuhörer und doch Teil der Inszenierung. Sie sind Mitglieder des Stücks „Familienabends – Eine Erinnerung für die Zukunft“. Und weil sie in dieser Wohnung im Hause der Familie Kahn sitzen, wissen sie auch: Die Nazis werden das Idyll zerstören.

Jakobschule musste „judenfrei“ sein

Und dann schlägt es zu. Das Schicksal. Mit aller Grausamkeit. Schlösse man die Augen, sähe man Hannelore Marx mit tränenfeuchten Augen vor dem Tor der Jakobschule stehen. Ausgesperrt. Gedemütigt. Freunde und Nachbarn, ihr gestern noch zugetan, spucken vor ihr auf die Straße. „Die Schule soll von jetzt ab judenfrei sei“, erzählt das Mädchen später ihren Eltern, ehe der zweite Schock kommt: Die Kahns müssen ausziehen. Auch das Haus mit der Nummer 17 muss „judenrein“ sein. Was folgt, soll in ewiger Erinnerung bleiben: Deportation, die Lagerhölle, der Tod von 6,3 Millionen Juden. Die Schande.

In einer knappen Stunde voller Emotionen schmiedet das Ensemble Lokstoff an Originalschauplätzen neue Bünde, die durch Betroffenheit und Traurigkeit zusammenwachsen. In der Stitzenburgstraße, aber auch in Vorstellungen in der Ameisenbergstraße oder in Wangen nehmen sie an den Schicksalen der jüdischen Bürger teil. Versammelt am Esstisch „formen die Zuhörer eine neue Erfahrungsgemeinschaft, die eine Grundlage für die Zukunft bilden“, sagt Regisseur Wilhelm Schneck: „Wir brauchen diesen Erinnerungsraum für die Gestaltung unserer Zukunft.“

Genau darum geht es auch Rainer Redies von der Initiative Stolperkunst, ein Projekt der Stuttgarter Stolperstein-Initiativen mit Kunstinstitutionen und Künstler: „Ich wollte die Idee der Stolpersteine mit Hilfe der Kunst weiterführen. Ich wollte die Geschichte so wieder in die Gegenwart bringen.“ Der „Familienabend“ ist Teil dieser Initiative. Für rund 30 Vorstellungen ist die Förderung gesichert. Doch dann droht dem Projekt das Aus. Am liebsten wäre es Wilhelm Schneck, „dieser Abend der Erinnerungskultur könnte Schule machen“. Vielleicht sogar im Wortsinn. Schneck und Hildebrand träumen davon, den „Familienabend“ in der Weissenburg im Heusteigviertel für Schulklassen aufzuführen.

Verlegerin lobt Lokstoff

Dort könnte auch das funktionieren, was an den Abenden dazu gehört: das Gespräch nach der Vorstellung, der Austausch, die Auseinandersetzung mit der Geschichte. Und natürlich der Historie von jenes Einzelschicksals von Hannelore Marx, das die Verlegerin Barbara Staudacher im Buch „Stuttgart – Riga – New York“ editiert hat. Die inzwischen verstorbene Marx, die Stuttgart im Jahre 2004 noch einmal besuchte, hat mit 71 Jahren begonnen, ihren „jüdischen Lebensweg“ aufzuschreiben. Die Schrecken des Lagerlebens in Riga, wo die Eltern erschossen wurden und in Massengräbern verscharrt wurden. Und die glücklichen Tage mit ihrem Ehemann „Victorle“ Marx in Amerika. Dort lebte sie zwar stets mit dem Gefühl der Schuld, eine Überlebende des Holocaust zu sein, aber frei von selbstzerstörendem Hass.

Diese Geschichte in einen Abend packen zu wollen, schien Staudacher beinahe unmöglich: „Ich war skeptisch“, gibt sie nach der Generalprobe des Stücks zu, „aber die Gratwanderung ist gelungen.“ Das Proben-Publikum scheint ebenso zufrieden. Denn als die letzte Silbe aus dem Mund von Kathrin Hildebrand verstummt, herrscht bedrückende Stille.

Statt des üblichen Brotes für den Künstler, den Applaus, gibt es nur ein genuscheltes „Dankeschön“. Und das Schlusswort eines Gastes: „Wer nichts aus der Geschichte lernt, muss sie wiederholen.“