In der Stuttgarter Synagoge gibt es am Mittwoch eine Gedenkstunde an das Reichspogrom am 9. November 1938. Das Haus konnte nach der Zerstörung des alten Gotteshauses vor 70 Jahren wieder eröffnet werden.

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurden in Stuttgart wie im ganzen Deutschen Reich die Geschäfte jüdischer Besitzer zerstört, jüdische Männer abgeholt, gedemütigt, geschlagen, ins Gefängnis geworfen oder nach Dachau gebracht. Und es brannten die Synagogen in der Hospitalstraße und in Bad Cannstatt. „Diese Nacht des großen Reichspogroms hat sich tief ins Gedächtnis eingebrannt, wir denken an diese Nacht, in der die Juden zu Tausenden verschleppt wurden und der Gedanke an Auswanderung dem an panische Flucht wich“, sagte Mihail Rubinstein vom Vorstand der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg (IRGW) am Mittwochabend bei der Gedenkstunde in der Synagoge.

 

Rubinstein bat um einen Moment des Schweigens, „denn was geschehen ist, ist mit dem Verstand nicht zu erfassen und wir können nur auf unser Herz hören. Aber die Geschichte der Juden in Deutschland und Stuttgart war damit nicht zu Ende.“

Wiedereröffnung 1952

Rubinstein sprach damit die Wiedereröffnung der neuen Synagoge 1952 am selben Ort an, die in diesem Jahr 70-jähriges Bestehen feiern kann. „Tief ergriffen stehen wir an dieser Stätte, wo schon ehedem unser Gotteshaus stand, bis es in jener Nacht 1938 von frevlerischen Händen in einen rauchenden Trümmerhaufen verwandelt wurde“, las Michal Zamir, Schülerin der Religionsschule der IRGW, aus der Rede von Reinhold Maier, dem ersten Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, zur Wiedereröffnung.

Und ihre Mitschülerin Liat Morein zitierte aus Maiers Aufzeichnungen den fünfjährigen Sohn Georg, der am 10. November 1938 nach dem Anblick der Brandstätte untröstlich geweint hatte: „Ich will fort. Was aber, wenn das über die ganze Welt kommt?“ Maiers Frau Gerda war jüdisch und hat den Krieg mit Sohn Georg und Tochter Magda in England überlebt.

Auf einem guten Weg

„Es darf nie wieder eine Nacht wie damals geben“, forderte Rubinstein und signalisierte gleichzeitig Hoffnung: Aus der Geschichte sei Erinnerung geworden, der man sich gemeinsam verpflichtet fühle. Und ebenso sei es selbstverständlich geworden, dass neben vielen nichtjüdischen Bürgerinnen und Bürgern ein Innenminister an dieser Gedenkstunde teilnehme: „Wir sind auf gutem Weg.“

Den „absoluten Zivilisationsbruch und ein Menschheitsverbrechen“ nannte Innenminister Thomas Strobl das Reichspogrom, das als Startsignal zu den Deportationen und damit zur Shoah gilt. „Dass wir heute wieder jüdisches Leben und jüdische Kultur erleben dürfen, als integralen und selbstverständlichen Teil des Lebens Deutschland, empfinden wir als Geschenk“, betonte der Minister. Einen „bewussten Ausdruck der Gemeinsamkeit“ nannte Bildungsbürgermeisterin und Vorsitzende der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, Isabel Fezer, die Einladung zu dieser Gedenkstunde in der Synagoge.

Solidarische Gegenwehr nötig

„Es sind die jungen Menschen, die uns Hoffnung machen“, sagte Fezer. Junge Menschen wie die Studentin Mia Paulus, die Führungen mit Schülern zu Orten des jüdischen Lebens in Stuttgart macht. „Erinnerungen sind Werte, und wir wollen gemeinsam dafür sorgen, dass diese Werte und die Erinnerungsorte nicht verschwinden.“

Junge Menschen wie auch der Student Alon Bindes, der einen entschiedenen Appell aussprach: Es dürfe nicht nur bei der Beteuerung „nie wieder“ bleiben, „es müssen Taten folgen.“ Als Jude allein könne er dem täglichen Shitstorm in den sozialen Medien nichts entgegensetzen, es brauche solidarische Gegenwehr. „Denn was geschehen ist, konnte nur geschehen, weil das Miteinander ausgehebelt wurde.“

Das Erinnern an die Shoah sei ambivalent und das Vergessen von Kälte, Hunger, Qual und Todesangst auch ein Segen, so Rabbiner Yehuda Pushkin. „Aber die Erinnerung hilft uns, in der schrecklichen Vergangenheit die Steine zu finden, um die Zukunft aufzubauen.“