Viele Autofahrer unterschätzen die Gefahr durch Sekundenschlaf. Ein häufig fataler Irrtum: Müdigkeit am Steuer ist für fast jeden fünften Verkehrsunfall in Deutschland verantwortlich.

Wochenend-Magazin: Markus Brauer (mb)

Stuttgart - Für Autofahrer, die sich übermüdet hinters Lenkrad hocken, kann es die letzte Fahrt sein. Nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin (DGSM) ist fast jeder fünfte Unfall (18,5 Prozent) durch Übermüdung verursacht. Bei nächtlichen Fahrten sind es sogar 42 Prozent. Die Zahlen sind damit deutlich höher als die des Statistischen Bundesamts. Für 2016 werden in dessen Unfallstatistik insgesamt 1871 Fälle von Übermüdung als Ursache von Unfällen aufgeführt – davon 1379 außerorts. Dies sei aber nur die Spitze des Eisbergs. Die Dunkelziffer ist nach Einschätzung von Experten sehr viel höher. „Schläfrigkeit stellt eine häufigere tödliche Unfallursache im Straßenverkehr dar als Fahren unter Alkohol“, sagt DGSM-Vorstandsmitglied Hans-Günther Weeß.

 

Die Folgen sind aber ähnlich: Laut DGSM ist die Fahrtüchtigkeit nach 17 Stunden ohne Schlaf ähnlich eingeschränkt wie mit 0,5 Promille Blutalkoholkonzentration. Nach 22 Stunden sind es schon 1,0 Promille. Auch übermüdete Fahrer fahren Schlangenlinie, können Entfernungen nicht richtig einschätzen und nehmen Hindernisse nicht mehr schnell gut wahr. Zwar gibt es bereits Fahrer-Assistenzsysteme, die das Lenkverhalten erfassen und ein Warnsignal senden. Doch das wird von den Fahrern oft nicht wirklich ernst genommen.

Sekundenschlaf ist ein plötzliches, unbemerktes Einnicken am Steuer. Schlafmediziner sprechen von sogenannten Mikroschlafepisoden, die sehr kurz, aber auch zehn, 15 Sekunden andauern können. Dabei müssen nicht einmal die Augen geschlossen sein. Das Gehirn kann selbst bei geöffneten Augenlidern kurzfristig in eine Art Dämmerzustand übergehen. Nach Berechnungen des ADAC reicht eine Sekunde Unaufmerksamkeit aus, um 36 Meter blind zu fahren. Bei fünf Sekunden summiert sich die Strecke auf 181 Meter, bei zehn Sekunden auf 361 Meter. Dem ADAC-Unfallexperten Thomas Unger zufolge kommen Fahrzeuge bei Müdigkeitsunfällen vielfach bei zu hoher Geschwindigkeit von der Fahrbahn ab. „Deshalb gibt es überproportional viele Schwerverletzte und Tote.“

Ein extrem unterschätztes Problem

Regelmäßig wird in den Medien von schweren Unfällen berichtet, bei denen Lkw-Fahrer in das Ende eines Staus rasen. Oft gibt es Todesopfer und Schwerverletzte. Experten vermuten, dass dabei Sekundenschlaf häufig eine Rolle spielt. Die genaue Ursache lässt sich nur schwer ermitteln, weil nur wenige Fahrer gegenüber der Polizei eingestehen, kurz eingenickt zu sein. „Einschlafen am Steuer ist eine Straftat“, erklärt der Psychologe Weeß. „Deshalb gibt das kaum jemand zu.“ Im Gegensatz zu Alkohol lässt sich Schläfrigkeit nach einem Unfall kaum nachweisen. Lediglich der Hergang, so Weeß, könne Hinweise auf die Unfallursache geben. Ungebremst in einen Stau zu rasen sei typisch für Sekundenschlaf. „Schläfrigkeitsunfälle sind oft die schwersten Unfälle.“ 2015 kamen auf deutschen Fernverkehrsstraßen 414 Menschen ums Leben, 5834 wurden schwer verletzt.

Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Emnid im Auftrag des Deutschen Verkehrssicherheitsrates (DVR) ergab, dass 26 Prozent der 1000 Befragten mindestens einmal schon am Steuer eingenickt sind (Männer: 34 Prozent, Frauen: 16 Prozent). Noch dramatischer sind die Zahlen bei Brummi-Fahrern: Von 353 Befragten gaben 46 Prozent an, einmal oder mehrmals während des Fahrens eingeschlafen zu sein.

„Schläfrigkeit am Steuer ist ein extrem unterschätztes Problem“, warnt die Mannheimer Schlafmedizinerin Maritta Orth. Schläfrige Fahrer würden sich selbst überschätzen, wenn sie meinten, sich permanent im Griff zu haben. Untersuchungen im Fahrsimulator hätten ergeben, dass die meisten gar nicht mitkriegten, wenn das Gehirn kurzzeitig auf Standby-Modus schaltet.

„Gegen Müdigkeit hilft nur Schlaf“

Die Ursache für Sekundenschlaf ist nicht nur Schlafmangel. Auch Stress, Schichtarbeit und Termindruck können dazu führen, dass man übermüdet am Steuer sitzt. Der DGSM zufolge können 15 bis 20 Prozent der in Deutschland zugelassenen Medikamente wie Schlaftabletten, Psychopharmaka, Antibiotika, Grippe- oder Schmerzmittel die Fahrtauglichkeit beeinflussen. Rund zehn Prozent der Bevölkerung leiden zudem an Ein- und Durchschlafstörungen, was zu chronischer Übermüdung führen kann.

Gerade das Fahren auf Autobahnen mit den wenigen Ablenkungen und der oft eintönigen Umgebung verführt zum Einnicken. Weeß: „Monotonie ist ein Stimulus für Schläfrigkeit.“ Nach Angaben des Schlafmedizinischen Zentrum der Universität Regensburg ereignen sich viele Unfälle durch Schläfrigkeit zwischen 3 und 6 Uhr sowie 13 und 15 Uhr. Die biologische Leistungsfähigkeit des Organismus und die Konzentrationsfähigkeit des Gehirns sinken in dieser zeit auf ein Tief. Es ist ein weitverbreiteter Irrglaube, sich mit Kaffee, Energy-Drinks, lauter Musik und Frischluft beim Fahren wachhalten zu können. „Gegen Müdigkeit“, sagt Maritta Orth, „hilft nur eins: Schlaf.“

Tipps gegen Sekundenschlaf

Warnsignale beachten: Müdigkeitsattacken können sowohl bei kurzfristigem Schlafmangel als auch bei chronischen Schlafstörungen auftreten. Körperliche Vorboten sind Augenbrennen, schwere Augenlider, Gähnen und Frösteln. Auch Verschalten oder Schwierigkeiten beim Spurhalten des Autos sind Alarmsignale für die nachlassende Aufmerksamkeit.

Erste Hilfe: Bei den ersten Anzeichen von Müdigkeit sollte man rasten, um Sauerstoff zu tanken und für zehn bis 20, maximal 30 Minuten auszuruhen. Wer nicht schlafen kann, sollte seinen Kreislauf durch Bewegung (joggen, Kniebeugen) an der frischen Luft in Schwung bringen.

Müdigkeit vorbeugen: Bei Dunkelheit produziert das Gehirn den Botenstoff Melatonin, der Müdigkeit hervorruft und den Schlaf fördert. Deshalb ist es wichtig, die nachlassende Aufmerksamkeit und aufkommende Schläfrigkeit rechtzeitig wahrzunehmen und grundsätzlich alle zwei Stunden zu pausieren. Nach drei bis vier Stunden oder noch später eine Rast einzulegen, erhöht das Risiko für Sekundenschlaf erheblich.