440 Plätze für Geflüchtete, monatelang leer, nun Geschichte: Warum die Notunterkunft in Backnang verschwindet – und was daraus folgt.
Am Sportplatz des Gewerblichen Schulzentrums in Backnang endet ein Kapitel. Die „Zeltstadt“, 2022 als Notunterkunft errichtet, wird abgebaut: Nur ein halbes Jahr im Betrieb, zuletzt leer, jetzt weitgehend ausgeräumt. Bis Ende Juli gehen die Wohnzelte an den Verleiher zurück.
Die drei Wohneinheiten, die durch sechs Versorgungszelte und Sanitärcontainer ergänzt wurden, hätten maximal 440 Personen aufnehmen können. Tatsächlich lebten zwischen Herbst 2023 und April 2024 dort bis zu 140 Geflüchtete – teils aus der Ukraine, teils aus Syrien, Afghanistan und der Türkei.
Man hatte sich zu dem Schritt entschlossen, weil zur Flüchtlingswelle aus der Ukraine auch ein starker Anstieg durch Asylsuchende aus anderen Herkunftsländern verzeichnet wurde. Peter Zaar, der Erste Landesbeamte im Rems-Murr-Kreis und Landrats-Stellvertreter, über jene Monate: „Das Land hatte die Geflüchteten in sehr kurzer Zeit an uns weitergereicht. Wir mussten puffern und hatten gar keine Zeit, ordentliche Kapazitäten aufzubauen.“
Erinnerung an Flüchtlingskrise 2015: Szenario wird nicht wiederholt
Zudem hatte man aus der Flüchtlingskrise 2015/16 Lehren gezogen. Zaar erinnert: Damals waren Notunterkünfte in Sporthallen nötig, was Sport- und Schulbetrieb zum Teil massiv beeinträchtigte. Zelte seien die klügere Wahl gewesen: „unschlagbar günstig“ und schnell verfügbar. Ein Zelt ersetzte vier bis fünf Hallen. Potenzielle Konflikte mit Schulen, Vereinen, aber auch ehrenamtlichen Helfern seien vermieden worden.
Abbau der Flüchtlingsunterkünfte: Warum jetzt?
Steffen Munck vom Fachbereich Koordination ergänzt das Bild: Noch im vergangenen Jahr sei der Rems-Murr-Kreis einer der fünf am stärksten betroffenen Landkreise Deutschlands gewesen. Heute habe sich die Lage beruhigt – auf ein Niveau wie vor dem Ukraine-Krieg. Dafür führen Zaar und Blunck drei mutmaßliche Gründe an:
- Tunesien-Abkommen: Im Juli 2023 vereinbarte die EU ein „Memorandum of Understanding“ mit Tunesien, um Migration über das Mittelmeer einzudämmen. Tunesien kontrolliert stärker, erhält finanzielle Unterstützung – EU-Zahlen belegen, dass solche Deals die Zahl irregulärer Einreisen reduzieren können.
- Grenzkontrollen: Die Bundesregierung führte wieder Kontrollen an den Außengrenzen ein – ein Signal, das laut Zaar und Blunck mediale Wirkung zeigte.
- Bezahlkartensystem: Ein flächendeckendes System zur finanziellen Steuerung hat offenbar Wirkung gezeigt – im Rems-Murr-Kreis verläuft es „komplett ruhig“.
Rems-Murr-Kreis: Flüchtlinsunterkünfte zu 59 Prozent ausgelastet
Im Rems-Murr-Kreis gibt es derzeit 34 Unterkünfte mit insgesamt 3500 Plätzen. Die aktuelle Auslastung liegt bei 59 Prozent, während 80 Prozent als Vollbelegung gelten. Steffen Blunck berichtet von planbaren Zuflüssen: „Die Lage ist wieder abbildbar“.
Das gilt zumindest für den Kreis: Im Herbst 2023 kamen rund 1000 Personen, die nun in die Kommunen weitervermittelt werden – nach zwei Jahren gilt hier die Endverantwortung laut Asylgesetz. Und: Die Kriege in Gaza, dem Iran oder Angriffe auf Israel spiegeln sich nicht in der Aufnahme im Kreis wider: Das liege unter anderem daran, dass Nachbarländer diese Grenzen selbst geschlossen haben.
Zeltabbau in Backnang: Kosten und Zukunftssicherheit im Fokus
Zaar erklärt, warum man zuletzt noch mit dem Abbau der Zelte wartete: Die 2024 angezeigte Rede Donald Trumps über einen möglichen „Diktatfrieden“ in der Ukraine habe befürchten lassen, dass erneut eine Fluchtwelle aus der Ukraine einsetzen könnte. Nun aber kommen die Zelte weg – auch, weil die Kosten dafür nicht mehr übernommen werden. Zugleich hofft man, dass das Land den Kreisen eine größere Reserve für künftige Notlagen zubilligt, einen „Puffer“, der ohne Lasten ermöglicht werden soll.
Rückkehr zur Normalität – für Platz und Alltag
Mit sechs Wochen rechnet Jens Kitter von der Kreisbaugruppe für den Abbau der Zelte. Die Schüler des Berufsschulzentrums müssen sich allerdings wohl bis zur nächsten Freiluftsaison gedulden, bis sie ihren Sportplatz wieder nutzen können, denn die Wiederherstellung dauert wahrscheinlich bis Jahresende – dann ist der Rasen zurück, die Linien sind wieder frisch, und der Platz ist frei für den Unterrichtssport. Rein rechnerisch stehen nun 41 Prozent der Unterbringungsplätze im Rems-Murr-Kreis leer.
Doch die Verantwortlichen warnen vor trügerischer Ruhe. Der Wunsch: bestehende Kapazitäten sichern, statt sie vorschnell einzustampfen. Denn wenn die vergangenen Jahre etwas gelehrt haben, dann dies: Krisen halten sich nicht an Vorlaufzeiten. Was heute wie Entspannung wirkt, kann morgen zur Zerreißprobe werden. Der Ruf nach einem „Puffer ohne Lasten“, wie es Peter Zaar formuliert, ist mehr als Haushaltskalkül. Er ist das Echo einer Politik, die vorausschauend agieren sollte.
Vorsicht vor trügerischer Ruhe
System der Flüchtlingsunterbringung
Drei-Stufen-Modell
In Baden-Württemberg gilt ein Drei-Stufen-Modell für die Aufnahme von Geflüchteten. Diese werden zunächst in einer Landeserstaufnahmestelle (LEA ) untergebracht, von wo sie für 24 Monate auf Gemeinschaftsunterkünfte in den Landkreisen verteilt werden. Danach folgt der Umzug in kommunale Anschlussunterkünfte.
Sonderfall
Geflüchtete aus der Ukraine unterliegen der EU-Richtlinie und gelangen direkt in kommunale Notunterkünfte. 2022 wurden so etwa 800 Ukrainer auf Städte und Gemeinden verteilt. Ohne den Kreis wäre das kaum zu stemmen gewesen.