Geheimverhandlungen mit Basel Als Weil am Rhein schweizerisch werden wollte

Der Weiler Gemeinderat 1946 mit Rudolf Kraus (mit Kette links) und Peter Hartmann (mit Kette rechts) Foto: Stadtarchiv Weil am Rhein, Kempe Foto:  

Der Krieg verloren, die Fabriken zerstört, die Menschen hoffnungslos: so war es 1945 auch in Weil am Rhein. Doch das gelobte Land liegt nahe, und der Bürgermeister startet einen gewagten Vorstoß. Die Geschichte einer verspäteten versuchten Fahnenflucht.

Baden-Württemberg: Eberhard Wein (kew)

Es ist ein höchst konspiratives Treffen. Keine sieben Wochen ist es her, dass die Franzosen in Weil am Rhein einmarschiert sind. Und plötzlich ist Rudolf Kraus wieder Bürgermeister, so wie bis 1933, als ihn die Nazis aus dem Rathaus warfen. Nichts hat er sich zuschulden kommen lassen – damals. Doch jetzt, das weiß er, riskiert er Kopf und Kragen. Die Franzosen fänden es jedenfalls nicht lustig, wenn sie von seinen Geheimverhandlungen in der Schweiz wüssten.

 

Schon sein Gang über die Grenze ist ein Wagnis und zu diesem Zeitpunkt natürlich illegal. Aber für die Schweizer, so hofft er, hat er ein interessantes Angebot im Gepäck: einen stattlichen Geländegewinn für den neutralen Nachbarn. Die Stadt Weil, am südwestlichsten Zipfel des Reiches, eingekastelt zwischen dem Basler Stadtteil Riehen, Basels Badischem Bahnhof und der französischen Rheingrenze, soll Teil von Basel werden. So wie er die Verhältnisse kenne, biete die Gemarkung der deutschen Nachbargemeinde für die Schweizer Großstadt „größtes Interesse“, sagt Rudolf Kraus.

Der damals 62-Jährige ist ein politisch erfahrener Mann. Doch sein Vorstoß ist nicht abgestimmt. Mit wem auch? Bestimmt nicht mit den Franzosen, die eigentlich das Sagen haben, bei denen sich aber Vichy-Mitläufer, De-Gaulle-Anhänger und Sozialisten gegenseitig misstrauen und blockieren. Nur seinen Stellvertreter hat Kraus mitgenommen. Peter Hartmann heißt er, ein Mann mit dicker Hornbrille und schwerer Kriegsverletzung, aber ähnlichen politischen Ansichten. Beide sind vor 1933 bei der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) gewesen, später werden sie sich am Aufbau der baden-württembergischen FDP beteiligen.

„Absolute Diskretion“

Doch von all dem, was sie jetzt verhandeln, das ist ihnen klar, darf erst einmal nichts nach außen dringen. Von ihren Schweizer Gesprächspartnern erbitten sie sich „absolute Diskretion“. Die wird gewährt. Das Gelübde hält mehr als sieben Jahrzehnte. Nicht einmal Hartmanns Sohn Theo, später Gemeinderat im Ort, erfährt davon.

Sein Vater habe nie so etwas verlauten lassen. „So unrealistisch kann man eigentlich gar nicht sein“, sagt er am Telefon. „Das kann ich mir nicht vorstellen.“ Immerhin Wolfgang Dietz, seit 2000 Oberbürgermeister von Weil am Rhein, hält es für möglich. „Wir waren hier schon immer weit weg von Berlin“, sagt der CDU-Politiker.

Tatsächlich, es ist wahr. Ulrich Tromm hat das kuriose, ja fast aberwitzige Stück südwestdeutscher Nachkriegsgeschichte ausgegraben. Jahrzehntelang unterrichtete er die Berufsschüler der Lörracher Mathilde-Planck-Schule in Gemeinschaftskunde. Seit er in Pension ist, beschäftigt sich der heute 73-Jährige – Brille, Oberlippenbart, Schal – mit der Heimatgeschichte. Er liebt es, in Archiven vergangenen Zeiten nachzuspüren. Und jetzt hat er einen wahren Fang gemacht, einen Zufallsfund, wie er einräumt.

Das Treffen im Bauernhaus

Eine Aktensammlung zum „Hofgut Otterbach“ hat er sich in den Lesesaal des Basler Staatsarchivs kommen lassen. In der Handakte stößt er auf drei maschinengeschriebene dünne DIN-A-4-Seiten mit der Aufschrift „Geheim“. Es ist das Gedächtnisprotokoll, das ein Schweizer Beamter von einem ungewöhnlichen Treffen angefertigt hat. „Herr Bässler vom Hofgut Otterbach teilte uns mit, dass der Bürgermeister von Weil mit uns an der Grenze Schweiz/Baden ins Gespräch kommen wolle“, beginnt der Schriftsatz.

Schon das Hofgut ist ein Kuriosum und für Tromm deshalb eine Geschichte wert. Es ist ein Überbleibsel aus der Feudalzeit, als nationale Grenzen noch keine Rolle spielten. Heute dienen die Gebäude der Schweiz als Heim für minderjährige Flüchtlinge. Damals hat es der Schweizer Bauer Hermann Bässler zu einem blühenden Gartenbaubetrieb ausgebaut. Ein paar Felder befinden sich schon auf deutscher Seite, der größere Teil und das Gehöft liegen in der Schweiz, nur die Ecke einer Scheune ragt nach Deutschland. Dort, im Bauernhaus, kommt man zusammen.

Bässler wird sich im Verlauf der folgenden Jahre noch als gewiefter Geschäftsmann erweisen. An diesem 14. Juni 1945 hat er für 18 Uhr ein Gespräch in seiner Stube arrangiert. Die Schweizer Seite ist interessiert, doch sie schickt nur unterrangige Beamte. Ein Gespräch auf Augenhöhe scheint den Eidgenossen nach zwölf Jahren Nazizeit auch mit einem unbelasteten Vertreter wie Kraus noch nicht ratsam zu sein.

Kaffee, Schokolade und Schweizer Franken

Der Verlauf des Gesprächs ist für die Schweizer – wie sich zwischen den Zeilen lesen lässt – überraschend. Es geht nicht wie erwartet um kleinere Grenzbereinigungen. In „aller Offenheit“, so hält es der Schweizer Protokollant fest, hätten „die beiden Herren“ erklärt, dass sie für „Landabtretungen weniger Interesse“ hätten. Rudolf Kraus und Peter Hartmann geht es nämlich ums große Ganze, wie die Beamten erfahren. „Sie seien gekommen, um zu fragen, ob die Inkorporation der Gemarkung Weil in das Gebiet des Kantons Basel-Stadt und der Eidgenossenschaft möglich sei.“

In Weil am Rhein, keine 5000 Einwohner groß, herrscht wie überall in Deutschland ein trostloses Bild. „Die Menschen demoralisiert, die Fabriken zerstört, von einem Wiederaufbau noch nichts zu sehen“, beschreibt es Tromm. „Der Alltag ist bestimmt vom alltäglichen Überlebenskampf.“ Noch mehr als sonst gilt die friedliche unzerstörte Schweiz für viele als das gelobte Land. Dort gibt es nicht nur Kaffee und Schokolade, sondern auch Schweizer Franken für den Wiederaufbau. Und der Schritt könnte nicht zuletzt die Möglichkeit eröffnen, sich aus der kollektiven deutschen Verantwortung zu stehlen.

Kraus und Hartmann sind überzeugt, dass sie bei ihrer verspäteten Fahnenflucht „die gesamte eingesessene Bevölkerung“ hinter sich haben. Man habe die Stadt von allen Nationalsozialisten gesäubert, nun wolle man auch die aus der Schweiz ausgewiesenen Nazis nicht haben. Und dass sie nebenbei weitere ungeliebte Mitbürger los werden wollen, formulieren sie ganz unverblümt: „Den auch ihnen fremden Beamten und Angestellten der Reichsbahn müsste im Interesse der Gemeinde Weil und ihrer alten Bevölkerung die Ausreise nahe gelegt werden“, erklären sie den Schweizer Gesprächspartnern ihren Plan für den Anschluss. Viele der Zugereisten sind Katholiken oder Kommunisten.

Doch die Schweizer Abgesandten haben Skrupel, wohl ahnend in welch politisch brisante Lage sie sich bringen, wenn sie nach sechs Jahren Neutralität ihrem Land Geländegewinn verschaffen würden. Zum einen seien sie nicht befugt für solche Verhandlungen, erklären sie. Zum anderen liege der Schweiz „die Ausnützung der jetzigen Notlage Deutschlands absolut fern“. Solche Gespräche dürften „nicht unter dem Druck der Besetzungsbehörde geführt werden“, betonen die Schweizer Beamten.

Man muss wissen: Die Weiler sind nicht die einzigen, die sich in diesen Tagen der Schweiz andienen. Der deutsche Nationalstaat hat sich für nicht wenige gerade im Südwesten nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg erledigt. Nicht geheim, sondern sogar besonders laut wird beispielsweise in der deutschen Exklave Büsingen nach einem Beitritt zur Schweiz gerufen. Nicht anders ist es in den südlich von Schaffhausen gelegenen Zipfeln Jestetten (Kreis Waldshut) und Gailingen (Kreis Konstanz).

In Büsingen sind die Sezessionsabsichten sogar bereits derart konkret, dass zeitweise erwogen wird, sämtliche Vertreter Deutschlands, die in die Enklave kommen, abzuweisen. Den einzigen, den es dann tatsächlich trifft, ist der Bezirks-Schornsteinfegermeister aus Singen, der nach den maroden Büsinger Schornsteinen sehen möchte. In der Schweiz ist man hingegen auch gegenüber diesen öffentlichen Liebesbekundungen höchst reserviert. Im Jahr 1938, so merkt ein Kommentator des Schaffhauser Lokalblatts an, habe Büsingen ja schließlich noch zu 100 Prozent für Adolf Hitler gestimmt.

Auf Schweizer Art

Allerdings geht es der Schweizer Seite nicht nur um politische Hygiene, sondern auch um das fein austarierte Innerschweizer Gleichgewicht zwischen Katholiken und Protestanten, deutsch- und romanischsprachigen Einwohnern, städtischen und ländlichen Gebieten. Aus diesem Grund war schon 1918 der Wunsch des Landes Vorarlberg nach einem Beitritt zurückgewiesen worden. Auch darauf weisen die Unterhändler die Bittsteller aus dem Weiler Rathaus hin.

Vor diesem Hintergrund verläuft der Vorstoß im Sande. Kraus, der bald schon zum Lörracher Landrat aufsteigt, und Hartmann, der später das Weiler Bürgermeisteramt übernimmt, engagieren sich in der Folge eine Zeit lang für die Idee eines Alpenstaats, der Südbaden, Südwürttemberg, Teile Bayerns und Österreich umfassen soll und in der Fantasie mancher sogar bis ins Elsass reicht.

Die Basler Einwohnergemeinde verfolgt ihre Ziele hingegen auf andere, wenn man so will auf Schweizer Art, weiter. Denn in einem Punkt ist Bürgermeister Kraus ja richtig gelegen: Ein Landerwerb auf deutscher Seite ist für Basel „von großem Nutzen“. So steht es in einer nicht minder geheimen Vereinbarung von 1952, die Tromm ebenfalls in der Hofgut-Aktensammlung gefunden hat. Darin verpflichtet sich Bauer Bässler, als Strohmann Grundstücke aufzukaufen. Denn wenn sich die Stadt Basel als Käufer zu erkennen gebe, könne dies die Preise verderben, vermuten die Schweizer. Zudem seien Komplikationen zu befürchten, weil die Gemeinde Weil auf den Schutz der landwirtschaftlichen Nutzung pochen oder der deutsche Staat sein Vorkaufsrecht zur Ansiedlung ostdeutscher Flüchtlinge ausüben könnte.

16 Millionen für Bauer Bässler

Zur Deckung der Erwerbskosten bürgt die Basler Einwohnergemeinde für Kredite bei der Kantonalbank. Bauer Bässler verpflichtet sich seinerseits, der Stadt Basel „auf all seinen Besitz in Otterbach ein Vorkaufsrecht einzuräumen“. Als Kaufpreis werden die „effektiven Erwerbskosten zuzüglich Müheverwaltung“ festgeschrieben.

Als Hermann Bässler zehn Jahre später seinen Gartenbaubetrieb altershalber verkauft, macht er gleichwohl seinen Schnitt. 16 Millionen Franken verlangt er für den zusammengekauften Grundbesitz von der Stadt Basel. Als er erfährt, dass keine Militärsteuer fällig ist, fordert er noch einen Nachschlag von einer Million, den er auch erhält. Zum Hofgut gehören zu diesem Zeitpunkt allein 25 Hektar Gartenbauland auf deutscher Seite. Gemessen an der damaligen Gesamtgemarkungsfläche der Stadt von 98 Hektar war also ein gutes Viertel von Weil doch noch zu Basel gekommen – wenn es auch offiziell deutsch geblieben war.

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