Das Ulmer Landgericht verurteilt die Mutter des getöteten vierjährigen Raphael und ihren früheren Lebensgefährten zu je fünf Jahren Haft. Zuvor ist über ein in letzter Minute aufgetauchtes, angebliches früheres Tagebuch der Frau geredet worden.

Politik/Baden-Württemberg: Rüdiger Bäßler (rub)

Geislingen - Das Landgericht Ulm hatte am Montag Mittag bereits zur Urteilsverkündung angesetzt, da kam es noch einmal zu einer Unterbrechung, wie es viele im Verlauf dieses langen Prozesses um den gewaltsamen Tod des vierjährigen Raphael gegeben hatte. Der Verteidiger der Mutter, die gemeinsam mit ihrem früheren, inzwischen 30-jährigen Freund der Körperverletzung mit Todesfolge sowie der Misshandlung Schutzbefohlener angeklagt war, hob einen DIN-A4-Umschlag in die Höhe. Darin: ein angebliches Tagebuch der Angeklagten, mit Einträgen auch aus der Tatzeit, also von Februar 2011 bis März 2011. Dazu ein bedrucktes Blatt: „Dein Tagebuch. Jetzt ist es zu spät. Das Urteil ist gefallen.“ Ein Anonymus soll den Umschlag am Wochenende im Kanzleibriefkasten deponiert haben.

 

Noch einmal, beantragte der Verteidiger der Frau, müsse in die Beweisaufnahme eingetreten werden. Ein Graphologe müsse her, dazu ein Gutachter, der beweise, dass die Kladde tatsächlich fünf Jahre alt ist. Sie belege, dass der Angeklagte allein der Todesschläger sei. Das Gericht überflog die Notizen, in denen die Angeklagte erneut ihren damaligen Lebenspartner der Misshandlung des Sohnes bezichtigte und die eigene Ohnmacht hervorhob. „Ich verlasse ihn. Gott gibt mir die Kraft“, war da beispielsweise zu lesen. „Haben Sie eine Erklärung dafür, dass von Ihnen nie erwähnt wurde, dass Sie solche Aufzeichnungen haben?“, fragte der Richter Gerd Gugenhan. Nein, sie habe „nie daran gedacht“, so die Frau. Und welcher „ominöse Dritte“ (Originalton Gugenhan) den Umschlag beim Anwalt in der Kanzlei eingeworfen habe, wisse sie auch nicht. Und auch nicht, wie es kommt, dass in dem Tagebuch die Daten zu den Einträgen vor Raphaels Tod „auskorrigiert“ wurden – vom Jahr 2010 auf 2011. Wenig später wies das Gericht den Antrag auf eine neue Beweisaufnahme ab.

Die Justiz verzögerte den Prozessbeginn

Die Staatsanwältin hatte noch angemerkt, dies sei doch nur der Versuch der Angeklagten, „ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen“. Sollte das die Absicht gewesen sein, ist der Versuch missglückt. Die Kammer verurteilte beide Angeklagte zu jeweils fünf Jahren Haft wegen Körperverletzung mit Todesfolge sowie der Misshandlung eines Schutzbefohlenen. Von dieser Strafe werden jedoch jeweils neun Monate abgezogen. Erst hatte, wegen einer offenen Personalie, die Staatsanwaltschaft Ulm den Fall über Gebühr liegen gelassen, anschließend das Landgericht. Das Verfahren sei „mehrfach auf den Stapel gelegt worden“, räumte Gugenhan ein. Was das Gericht anbelange, sei dies der „Abarbeitung von dringenden Haftsachen geschuldet“ gewesen. Viereinhalb Jahre von der Tat bis zum Urteil sind so vergangen.

Welcher der beiden Angeklagten dem kleinen Raphael am 13. März 2011 den tödlichen Schlag auf den Kopf versetzt hat, habe nicht letztgültig bewiesen werden können, so Gugenhan. „Es besteht eine große Wahrscheinlichkeit, dass die Angeklagte die Schläge selber ausgeführt oder den Angeklagten dazu angestachelt hat.“ Am Ende seien beide gleich zu bestrafen, denn sie hätten seit Mitte Februar einvernehmlich „ein Gesamtklima sich steigernder Gewalt“ geschaffen und mitgeholfen, Raphaels Verletzungen zu vertuschen: gegenüber der Familie, dem Kindergarten, Ärzten. Sogar gegenüber den Notärzten, die vor fünf Jahren vergeblich versucht hatten, das bewusstlose Kind zurück ins Leben zu holen. „Die halbe Akte bestand aus Fahrradstürzen“, so Gugenhan beispielsweise. Jedoch: „Es gab sie nicht. Das Fahrrad stand eingestaubt im Keller.“

Eine Tötungsabsicht sah das Gericht nicht

Das Gericht habe auch über einen „bedingten Tötungsvorsatz“ beraten, aber kein Motiv gefunden. „Es ging darum, Raphael nach den Vorstellungen der Angeklagten zu formen und zu erziehen.“ Gemacht hätten sie das, wie auch mehrere Zeugenaussagen belegt hätten, „wie bei einem Hund“.

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