Zwischenrufe können eine parlamentarische Diskussion durchaus beleben. Ein bestimmtes Niveau sollte dabei jedoch nicht unterschritten werden. Im Stuttgarter Rathaus hat die Gesprächskultur in den letzten fünf Jahren durchaus gelitten, und das hat maßgeblich mit einem Stadtrat zu tun.

Stuttgart - Zwischenrufe beleben die parlamentarische Debattenkultur – zumindest manchmal. Gefürchtete Zwischenrufer wie der frühere SPD-Fraktionschef im Bundestag, Herbert Wehner („Geistiges Eintopfgericht“) oder der CSU-Abgeordnete Hans Michelbach („Schwachmatiker“) haben sich auch durch ihre mehr oder weniger geistreichen Äußerungen mit Bezug auf die politische Konkurrenz einen Namen gemacht. Im Stuttgarter Gemeinderat ist dagegen das Niveau der Zwischenrufe deutlich niedriger. Giftige Wortgefechte zwischen den politischen Konkurrenten mehren sich, je näher der Tag der Kommunalwahl rückt. Ein Stadtrat liegt dabei auf der nach unten offenen Niveauskala deutlich vorn: der frühere AfD-Mann und heutige BZS-23-Politiker Heinrich Fiechtner. Am Donnerstag droht die nächste Eskalationsstufe: Dann steht die Wahl der Nachfolgerin des von Fiechtner heftig befehdeten Sozialbürgermeisters Werner Wölfle (Grüne) auf der Tagessordnung.

 

Der Mediziner Fiechtner galt schon zu seinen AfD-Zeiten als Enfant terrible der Fraktion, ließ kaum eine Gelegenheit aus, den politischen Gegner zu schmähen und machte auch außerhalb des Gemeinderats mit Äußerungen wie etwa dem Vergleich von Hitlers „Mein Kampf“ mit dem Koran Schlagzeilen. OB Fritz Kuhn (Grüne) musste sich von ihm als „mieser faschistoid-populistischer Scharfmacher“ beleidigen lassen, wofür er sich später entschuldigte. In seiner neuen Rolle als parteiloser Landtagsabgeordneter und BZS-23-Vertreter fällt er jedoch immer wieder in alte Muster zurück, je näher der Wahltag rückt. Im Sozial- und Gesundheitsausschuss am Montag attackierte er Margit Riedinger, die Frau von Sozialbürgermeister Werner Wölfle (Grüne), nach Angaben von zahlreichen Sitzungsteilnehmern unter der Gürtellinie. Fiechtner weigerte sich trotz eines Ordnungsrufs, den Saal zu verlassen. Die Sitzung wurde schließlich fortgesetzt – mit Fiechtner.

Fiechtner bezeichnet Kuhn zum wiederholten Mal als „faschistoid-populistisch“

Bei der Debatte um den umstrittenen Breitbandnetzausbau und die Einführung des Mobilfunkstandards 5 G vor knapp zwei Wochen hatte Fiechtner den Redebeitrag des SÖS/Linken-Fraktionschefs Hannes Rockenbauch mit „Aufhören“-Rufen gestört, ohne dass dies Konsequenzen nach sich gezogen hätte. Sitzungsleiter Fritz Kuhn beschied ihm lediglich, man sei „hier nicht im Wirtshaus“. Daraufhin keilte der Stadtrat erneut gegen den OB aus: Dieser habe ihm in seiner „miesen, faschistoid-populistischen Art“ an gleicher Stelle in der Debatte um den Klimaschutz das Wort entzogen. Einzige Reaktion Kuhns: ein Stirnrunzeln.

Fiechtner selbst sieht in seinen Äußerungen weder Beleidigendes noch Ehrabschneidendes: Dass die Ehefrau von Wölfle weiter an Sitzungen teilnehmen dürfe, obwohl gegen ihren Mann im Zuge des Klinikumsskandals ein Ermittlungsverfahren laufe, sei „ein Skandal“. Und dass der OB Rednern unterschiedliche Redezeiten zugestehe, sei unzulässig. Darauf habe er mit einer „polemischen Äußerung“ reagiert. Im Übrigen lasse die Debattenkultur im Rat tatsächlich zu Wünschen übrig: „Kritische Stimmen werden gern im Wort beschnitten.“

Auch auf der anderen Seite des politischen Spektrums geht manchem Redner mitunter der Gaul durch. Als Fiechtners Bündnispartner Bernd Klingler Rockenbauch beschied, man habe den Breitband-Deal mit der Telekom ausführlich diskutiert, brüllte Rockenbauch: „Sie lügen“ – worauf Klingler („Ich komm jetzt gleich vor zu Ihnen“) ihm fast schon körperliche Gewalt androhte.

SPD-Fraktionschef Martin Körner hält Ausschluss von den Sitzungen für überlegenswert

Mit dem Einzug von Rechtspopulisten in den Gemeinderat hat sich die Debattenkultur schon zuvor verändert, so sehen es auch die Protagonisten der etablierten Parteien. Politisch heikle Themen wie Diesel-Fahrverbote, Klimawandel oder die Affäre um das Stuttgarter Klinikum werden oft wenig sachorientiert diskutiert – es geht mehr um die Diffamierung des politisch Andersdenkenden. Der CDU-Fraktionschef Alexander Kotz etwa konstatiert: „Da ist in den letzten Jahren etwas an Gesprächskultur verloren gegangen.“ Speziell Fiechtner als Stadtrat einer Zwei-Mann-Gruppierung scheint zudem von der Gier nach Aufmerksamkeit besessen. Das ist auch ein Grund, warum die Stadtverwaltung bisher mit Sanktionsmöglichkeiten zurückhaltend umging: Provokateuren soll keine Möglichkeit geboten werden, sich als Märtyrer zu stilisieren. Darum geht es Fiechtner offenbar: „Das ist mir völlig egal, sie können mich ja von der Polizei abführen lassen“, so der Stadtrat, als er im Plenum aufgefordert wurde, seinen viel zu langen Wortbeitrag zu beenden. Martin Körner (SPD), hält angesichts der jüngsten Eskalation einen Ausschluss Fiechtners von weiteren Gremiumssitzungen für überlegenswert: „Er missbraucht die Sitzungen nur, um seine wirren Tiraden loszuwerden.“

Wie der OB und die Stadträte am Donnerstag reagieren, falls Fiechtner erneut über die Stränge schlägt, ist offen. Insgeheim werden viele Stadträte die Hoffnung von Alexander Kotz teilen: „Vielleicht hat sich das Thema Fiechtner nach dem Wahlsonntag erledigt.“