Das Projekt „Lebensträume des Vereins Gemeinsam Leben, Gemeinsam Lernen ist abgeschlossen. Einige behinderte junge Menschen haben einen Arbeitsplatz gefunden.

Kreis Göppingen - Amelie ist heute fünf Jahre alt geworden. Die Kleine aus Böhmenkirch feiert, nachmittags zu Hause, morgens aber natürlich auch im katholischen Kindergarten St. Hippolyt. Amelie darf die aufgestellten Kerzen auspusten. Die anderen Jungen und Mädchen der „Sternengruppe“ helfen ihr dabei. Zum Abschluss wünscht sich das Geburtstagskind noch das „Hai-Spiel“ – und darf natürlich selber der Hai sein und andere Fische fangen.

 

Aufmerksam beobachtet Anja Nägele die Szenerie, greift ein, wenn die Jagd einen Tick zu wild wird, und nimmt die Kinder, die nicht mitspielen wollen oder ausscheiden, in ihre Obhut, blättert mit ihnen ein Bilderbuch durch. Alles ist ganz normal, für die 26-Jährige ebenso wie für ihre Kolleginnen Nicole Schumacher und Daniela Snischek, für die Leiterin der Einrichtung, Claudia Schauer-Pretsch, und nicht zuletzt für die Kinder sowie deren Eltern.

Allerdings ist es längst noch keine Selbstverständlichkeit, dass ein Mensch wie Anja Nägele eine feste Arbeitsstelle in einem Kindergarten antreten kann. Die junge Frau, die mit ihren Eltern und ihrer Großmutter im Böhmenkircher Teilort Schnittlingen lebt, ist mit dem Down-Syndrom zur Welt gekommen. Die Genmutation schränkt sie zwar in manchen Dingen ein. „Sie hindert mich aber nicht daran, in meinem Traumberuf zu arbeiten“, sagt die Hobbytänzerin selbstbewusst.

„Eine Kollegin auf Augenhöhe“

Das sieht Daniela Snischek, die Leiterin der „Sternengruppe“, genauso: „Man muss ihr Zeit lassen und ihr Tun etwas stärker reflektieren, aber ansonsten arbeitet Anja in den Bereichen, die sie übernommen hat, selbstständig. Sie bringt ihre Fähigkeiten ein und ist eine echte Bereicherung für die ganze Gruppe.“ Und Nicole Schumacher ergänzt: „Anja ist für mich eine Kollegin auf Augenhöhe.“ Die Normalität im Arbeitsalltag stellt auch Claudia Schauer-Pretsch heraus. „Wenn sie ihren freien Tag hat, fragen die Kinder gleich nach Anja. Es hat von Anfang an wirklich gut funktioniert“, betont sie.

Dieser Anfang liegt mittlerweile mehr als drei Jahre zurück. Seit April 2010 läuft ihr Arbeitsvertrag. Dem Schulabschluss am Institut Eckwälden folgten verschiedene Praktika und eine erste feste Anstellung in der Kindertagesstätte der Geislinger Helfensteinklinik. Als diese geschlossen wurde, begann für Anja Nägele ein neuer Abschnitt ihres Berufslebens in St. Hippolyt. „Ich fühle mich dort sehr wohl und hab’s nicht mehr so weit“, erklärt sie mit einem Augenzwinkern. So bleibe etwas mehr Zeit für ihre Hobbys, die Tanzstunde in Göppingen oder das Fitness-Studio und den Bauchtanzkurs in Böhmenkirch.

Elternverein bietet umfassende Hilfe

Über die Tatsache, dass inzwischen alles ganz normal ist, wundert sich Anjas Mutter Heidrun gelegentlich immer noch. „Wir mussten auch als Familie viel lernen, ihre Selbstständigkeit akzeptieren, mussten Bedenken überwinden und loslassen“, sagt sie. Sehr wichtig sei für diesen Prozess das Projekt „Lebensträume“ des Elternvereins Gemeinsam Leben, Gemeinsam Lernen (GLGL) gewesen. „Wir haben den Werdegang anderer Kinder kennengelernt und gesehen, dass vieles, was für uns nicht vorstellbar war, klappt“, fährt Heidrun Nägele fort. Darüber hinaus biete der Verein als Institution einen Rückhalt und Unterstützung bei bürokratischen Vorgängen.

Möglich ist das nur, weil sich die Sozialpädagoginnen Sabine Etzel und Annette Wanner, im Auftrag von GLGL, derartiger Angelegenheiten annehmen können. Sie helfen etwa bei Anträgen für das sogenannte persönliche Budget, das den behinderten Menschen für den Freizeit-, aber eben auch den Arbeitsbereich finanzielle Hilfen bietet und damit die Eingliederung erleichtert. Unterstützt wurden die „Lebensträume“, die nach fünf Jahren nunmehr abgeschlossen sind, durch die Paul-Lechler-Stiftung, die rund 30 000 Euro beigesteuert hat. Nicht nur Anja Nägele konnte so einen Arbeitsplatz finden. 15 weitere junge Leute sind auf diese Weise ebenfalls – und zwar außerhalb von betreuten Werkstätten – in Lohn und Brot gekommen, machen Praktika oder arbeiten in Altenheimen, Metzgereien, Bibliotheken, Schreinerbetrieben, Restaurants, Cafés, beim Bäcker, beim Gärtner oder im Tierheim. Alles ist ganz normal.

Eingliederung von Behinderten bedarf der Unterstützung

Persönliches Budget
: Seit dem Jahr 2008 haben in der Bundesrepublik gerade auch „Menschen mit sehr hohem Förderbedarf“ einen Rechtsanspruch auf ein sogenanntes persönliches Budget, das „Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft“ anbietet. Das Gesetz schließt den Bereich Arbeit ausdrücklich mit ein. Individuell stehen hier je nach Bedarf und auf Antrag maximal 1200 Euro pro Monat zur Verfügung.

Paul-Lechler-Stiftung:
Im Jahr 1928 hat Paul Lechler junior die Paul-Lechler-Stiftung in Stuttgart gegründet. 1968 wurde sie in einen Verein und vor sieben Jahren in eine gemeinnützige GmbH umgewandelt. Ziel der Stiftung ist, mildtätige, kirchliche und besonders gemeinnützige Zwecke zu fördern, vor allem in der Jugend- und Altenhilfe, im Bildungs- und Erziehungsbereich, in der öffentlichen Gesundheitspflege sowie in der Hilfe für behinderte Menschen.

„Über Inklusion ist da noch nicht geredet worden“

Sein Projekt „Lebensträume“ hat der Verein Gemeinsam Leben, Gemeinsam Lernen (GLGL) erfolgreich abgeschlossen. Doch es gibt noch viel zu tun, sagt Gabriele Heer vom Vorstandsteam.
Frau Heer, vor mehr als 20 Jahren ging es mit dem Verein Gemeinsam Leben, Gemeinsam Lernen los. Warum war das notwendig?
Auf dem Papier gab es das Recht, dass niemand aufgrund einer Behinderung benachteiligt werden soll, schon lange bevor wir aktiv geworden sind. Nur wenige Menschen waren allerdings davon überzeugt, dass es wichtig ist, miteinander zu leben und voneinander zu lernen. GLGL hat Inklusion verwirklicht, als über dieses Thema noch nicht einmal geredet wurde. Es hat 20 Jahre gedauert, ehe eine UN-Konvention unsere Ideen bestätigt hat und der Gesetzgeber absolut in Zugzwang kam.

Welche Ziele hatten Sie ins Auge gefasst?
Unsere Söhne und Töchter sollten, egal wie hoch der Unterstützungsbedarf auch ist, überall in der Gesellschaft dazugehören, auf ihre ganz eigene Art und Weise.

Wurden die Ziele erreicht? Oder anders gefragt: War der Verein erfolgreich?
Alle Eltern, die sich die Inklusion von Herzen gewünscht und mit aller Kraft daran mitgearbeitet haben, haben dieses Ziel im Kindergarten und in der Schule erreicht. Mit dem Projekt „Lebensträume“ wollten wir den Übergang von der Schule in den Beruf begleiten und die Lebensträume der jungen Menschen verwirklichen. Wir wollten den Unternehmen zeigen, dass man mit jedem Menschen arbeiten kann, wenn er persönliche Unterstützung bekommt.

Was war die Idee, die hinter dem Projekt steckte?
Wir wollten deutlich machen, dass auch Menschen mit sehr hohem Unterstützungsbedarf am Arbeitsleben teilhaben können. Schon im „Fit“-Projekt, was für Fördern, Integrieren, Teilhaben stand, hatten wir bewiesen, dass es Menschen mit geringerem Unterstützungsbedarf mit guter Begleitung auf Praktikumsplätzen und mit Assistenz in den ersten Arbeitsmarkt schaffen können.

Haben Sie ein konkretes Beispiel parat?
Katharina, eine junge Frau, die weder sprechen noch laufen konnte, war das beste Beispiel dafür, dass jeder Mensch mit den richtigen Unterstützung seinen Platz in der Gesellschaft finden kann. Obendrein konnten wir sehr viel von Katharina lernen, von ihrer unbändigen Lebensfreude und der Kunst, ausschließlich im Augenblick zu leben. Und wir haben Werkzeuge gefunden, um die Lebensträume unserer Kinder zu ermitteln und zu erkennen, wo ihre Stärken liegen, wie man damit umgeht, wie man die richtigen Unterstützer und die passenden Unternehmen findet. So konnten wir das „Persönliche Budget Arbeit“ installieren, das es in dieser Form zunächst nur im Kreis Göppingen gab. Wir haben es gebraucht – und haben es hinbekommen.

Nun sind die „Lebensträume“ abgeschlossen. Gibt es weitere Aufgaben für den Verein?
Oh ja, wir werden versuchen, gemeinsam mit dem Haus Lindenhof ein großes Inklusionsprojekt der Aktion Mensch für den gesamten Stauferkreis zu begleiten. Inklusion ist zwar in aller Munde, aber jeder versucht, seine Ressourcen zu behalten. Gelingen kann Inklusion jedoch nur, wenn man eine andere Sichtweise auf Menschen mit Handicaps gewinnt. Wenn man lernt, dass das, was der Schwache braucht, allen Menschen hilft, um miteinander auszukommen. Deshalb müssen diese beiden oft getrennten Systeme zusammenfinden, am einfachsten am Beginn des Lebens. Des Weiteren werden wir einen Antrag bei der Landesstiftung Baden-Württemberg stellen, um Geld für unsere vielen Assistenten zu bekommen. Wir haben also auch künftig gut zu tun.

Gabriele Heer: Das Soziale Gewissen

Wirtsfrau:
Gabriele Heer leitet mit ihrem Mann Walter zusammen das Restaurant Alte Post in Kuchen. Unterstützung erfahren die beiden unter anderem durch ihren Sohn Ludwig, einen mehrfach preisgekrönten Spitzenkoch.

Vereinsfrau:
Seit ihre Tochter Chrissie mit Trisomie 21 geboren wurde, engagiert sich Gabriele Heer im Vorstand des Vereins Gemeinsam Leben, Gemeinsam Lernen. Die 53-Jährige leitet die Geschäftsstelle und setzt sich auch sonst für die Belange Schwächerer ein. Als sie jüngst aus dem Kuchener Gemeinderat ausschied, bezeichnete sie Bürgermeister Bernd Rößner als „soziales Gewissen der Gemeinde“.