Der gemeinsame Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung läuft oft nicht wie erhofft. Besserung ist nicht in Sicht, klagt die oppositionelle SPD und gibt der Landesregierung die Schuld.

Stuttgart - Es fehlt an Lehrern und an der Zeit, sich um behinderte Kinder an der Regelschule intensiv zu kümmern, kritisiert die Landtags-SPD. Besserung sei nicht in Sicht: „Die grün-schwarze Landesregierung scheint die Inklusion gegen die Wand fahren zu wollen“, folgert Gerhard Kleinböck, der schulpolitische Sprecher der SPD, aus einer Antwort von Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) auf eine Anfrage der SPD. Die Antwort liegt unserer Zeitung vor.

 

Quote steigt langsam

Seit 2015 haben Eltern behinderter Kinder die Wahl, ob ihre Kinder eine Sonderschule oder eine Regelschule besuchen sollen. Seither steigt der Anteil der Inklusionskinder an den allgemeinen Schulen. Im vergangenen Schuljahr besuchten in Baden-Württemberg 14,9 Prozent der Schüler mit einem sogenannten Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot keine Sonderschule, sondern eine Regelschule, teilt Eisenmann auf die Frage der SPD mit. Nach Daten des Statischen Landesamts waren es ein Jahr zuvor 13,9 Prozent und im Schuljahr 2015/16 noch 11,6 Prozent.

Doch die Rahmenbedingungen stimmen aus Sicht der SPD nicht. „Viele Kinder mit Förderbedarf werden aktuell an allgemeinbildenden Schulen nicht ausreichend betreut, und Lehrkräfte sind überfordert“, sagt Kleinböck. Deshalb hätten Eltern eben nicht die Wahlfreiheit zwischen zwei gleichwertigen Möglichkeiten.

Fachfremdes Personal im Klassenzimmer

Ein zentrales Problem der Inklusion ist der Mangel an Sonderpädagogen. Eisenmann verweist gegenüber unserer Zeitung darauf, dass das Land bis zum Schuljahr 2022/23 für die Inklusion zusätzlich 1353 Lehrerstellen vorsieht. Bis jetzt seien es bereits 718 Stellen. Allerdings werden, so das Ministerium auf Anfrage, derzeit an den öffentlichen sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren (SBBZ, ehemals Sonderschulen) rund 400 „sonstige geeignete Personen“ befristet im Unterricht eingesetzt, weil sich keine Sonderpädagogen finden. Laut Ministerium handelt es sich zu großen Teilen um Erzieherinnen, Logopädinnen, Gesundheits- oder Sozialpädagoginnen. Aber auch von Fleischereifachverkäuferinnen und Fahrlehrern ist in bildungspolitischen Kreisen die Rede.

Absage an das Zwei-Pädagogen-Prinzip

Dennoch verlangt die SPD mehr Lehrerstunden für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Bisher begleiten Sonderpädagogen ein Inklusionskind häufig drei Stunden pro Woche im Unterricht. In zehn bis 15 Jahren will die SPD das „Zwei-Pädagogen-Prinzip“ in Inklusionsklassen verwirklicht sehen. Dem Vorschlag erteilt die Ministerin eine klare Absage. „Die Erhöhung der Pro-Kopf-Zuweisung von Lehrerwochenstunden und die flächendeckende Umsetzung des Zwei-Pädagogen-Prinzips ist nicht Ziel der Inklusionskonzeption in Baden-Württemberg.“

Im Jahr 2014 hatte die damalige grün-rote Landesregierung noch von 4000 zusätzlich notwendigen Stellen gesprochen, sollte in jeder Inklusionsklasse ein Sonderpädagoge ständig dabei sein. Im Koalitionsvertrag von Grünen und CDU taucht das Prinzip nicht mehr auf. Es wäre schlicht zu teuer. Eisenmann spricht von einem „enormen Ressourcenbedarf“, den das Prinzip zur Folge hätte.

Grüne setzen auf Faktor Zeit

Die SPD sieht auch ihren ehemaligen Koalitionspartner, die Grünen, in der Pflicht. „Die Grünen müssen mit mehr Nachdruck auf der Weiterentwicklung der inklusiven Schule bestehen“, verlangt Gerhard Kleinböck.

Für die Grünen erklärt die Bildungsexpertin Sandra Boser, „Inklusion ist ein langfristig angelegter Prozess, der Schritt für Schritt wachsen muss.“ Entscheidend sei, „dass Inklusion als selbstverständlicher Teil der Heterogenität in den Klassen akzeptiert wird“. Dafür brauche es „nicht zwingend das Zwei-Pädagogen-Prinzip“. Die Grünen-Abgeordnete setzt ihre Hoffnungen darauf, dass inzwischen alle Lehramtsstudenten sich mit Grundfragen der Inklusion beschäftigen müssen.

Die SPD wirft Eisenmann auch vor, sie habe „kein Interesse daran, alle Schularten bei der Umsetzung der Inklusion in die Pflicht zu nehmen“. Den Vorwurf kann das Ministerium „nicht nachvollziehen“. Die Schulämter würden entscheiden, wie und welche Schulen in die inklusiven Bildungsangebote einbezogen würden.

Gleichwertige Angebote

Eisenmann verweist auf drei Organisationsformen: Inklusion, Sonderschule und die Kooperation von SBBZ und allgemeiner Schule in der Art der früheren Außenklassen. Sie sagte unserer Zeitung: „Diese Angebote stehen für die Landesregierung gleichwertig nebeneinander.“ Inklusion sei „ein integraler Bestandteil des Bildungswesens in Baden-Württemberg“. Der Aufbau eines inklusiven Bildungssystems sei komplex. „Diesen Weg wollen wir kontinuierlich und konsequent weiter verfolgen und unterstützen“, sagte Eisenmann. Für Ende des Jahres kündigt sie den zweiten Inklusionsbericht für das Land an.