Kultur: Adrienne Braun (adr)

Es gibt Menschen, die sich überhaupt nicht mit ihrem biologischen Geschlecht identifizieren. Sie können heute den langen Weg der „Transition“ und einer geschlechtsangleichenden Operation gehen, aber auch danach gelten sie oft nicht als „richtige“ Frau oder „richtiger“ Mann.

 

Das bekommen sie wie intergeschlechtliche Menschen und oft auch Homosexuelle an einem Ort besonders deutlich zu spüren: der öffentlichen Toilette. Welche sie auch benutzen, stets müssen sie sich anhören „Sie sind hier falsch!“ Ein Satz, der im Grunde auf die gesamte Gesellschaft übertragen werden kann: Wer nicht reinpasst, ist falsch.

Es beginnt bei der Geburtsurkunde

In einigen Berliner Bezirken gibt es inzwischen eine dritte Unisex-Toilette. Der Ethikrat hat auch eine Gesetzesänderung initiiert: Seit einem Jahr können Eltern in Deutschland ein „X“ in der Geburtsurkunde eintragen, wenn das Geschlecht ihres Kindes nicht eindeutig ist. Aber so wird das Kind doch wieder stigmatisiert, keines von beidem und damit nicht richtig zu sein. Auch aus rechtlicher Sicht ergeben sich neue Probleme, denn in Deutschland dürfen nur Mann und Frau heiraten. Wären Menschen mit einem X in der Urkunde also von der Ehe ausgeschlossen?

Der Ethikrat hatte übrigens empfohlen, über die völlige Abschaffung eines solchen Eintrags nachzudenken. Wohlgemerkt: es würde um die Abschaffung des Eintrags im Geburtsregister gehen und nicht um die Abschaffung von Mann und Frau, wie konservative Geister bei solchen Vorstößen oft reflexhaft fürchten. Aber ein Signal wäre es sehr wohl, wenn zumindest an dieser Stelle nicht explizit darauf hingewiesen würde, welches Geschlecht ein Mensch hat. Denn ist es wirklich so wichtig, das zu betonen?

In unserer Gesellschaft hat das dritte Geschlecht dagegen keine Tradition. Im Gegenteil scheint das Bedürfnis derzeit sogar besonders groß zu sein, den Dualismus Mann/Frau zu betonen. „Wir leben in einer Welt, die davon geprägt ist, dass die Unterscheidung ständig relevant gemacht wird und sehr wirkmächtig ist“, sagt Uta Schirmer. Sie arbeitet an der Universität Göttingen in der Geschlechterforschung. Eine Disziplin, die heftig attackiert wird, weil sie zwar nicht bestreitet, dass es verschiedene biologische Geschlechter gibt, aber davon ausgeht, dass sie nicht von Natur aus mit einer Rolle und einem gesellschaftlichen Wert verknüpft sind.

Überraschungseier „nur für Mädchen“

Man muss keine Genderforschung betreiben, um festzustellen, dass sich die Geschlechtsstereotype in den vergangenen Jahren verfestigt haben. Ob es um Kosmetik, Medizin oder Sport geht – auf immer mehr Feldern wird klar zwischen den Geschlechtern getrennt. Arbeitskleidung ist zunehmend geschlechtsspezifisch. Lange Haare und Ohrringe sind bei Männern wieder verschwunden, stattdessen setzen sich Bärte durch. Und Mädchen und junge Frauen mit Kurzhaarfrisuren sind kaum mehr denkbar.

Es gab immer Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen, aber in früheren Generationen trugen Kinder die Kleider der Älteren auf und übernahmen Roller und Rad von den Großen. Inzwischen wird von Geburt an unterschieden bei Farben, Lego-Steinen, Bällen, Rädern, Schultüten oder Ranzen. Womit Kinder auch in Berührung kommen, stets wird markiert: Junge oder Mädchen. Sogar Überraschungseier sind inzwischen „nur für Mädchen“.

In einer Kultur, die so darauf fixiert ist, ständig die Geschlechterrollen zu zementieren und verstetigen, muss jemand wie Lann Hornscheidt als schiere Provokation wirken. „Wenn das Hornscheidt Probleme mit der Existenz zweier Geschlechter hat, soll es das für sich regeln und nicht andere damit belästigen. So!“, hat jemand in Facebook kommentiert. Hornscheidt lehrt am Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien. In einem offenen Brief an die Berliner Wissenschaftssenatorin forderten siebzig Unterzeichner, Hornscheidt „mit sofortiger Wirkung von der Universität zu entfernen“.

Wenn Operateure das Geschlecht zuteilen

Als würden Fakten verschwinden, wenn man nicht über sie spricht, wird auch seit Monaten dagegen protestiert, Kindern an baden-württembergischen Schulen zu erklären, dass es verschiedene sexuelle Identitäten gibt. Dabei ist unsere Gesellschaft in vielen Bereichen durchaus tolerant. Schwule Politiker sind akzeptiert – aber eben nur, wenn sie sich wie Wowereit oder Westerwelle eindeutig als Männer zu erkennen geben. Conchita Wurst wäre in der Politik undenkbar. Sie ist spaßig und nicht bedrohlich, weil ihre Travestie auf dem Parkett des Entertainments stattfindet.

Im ernsten Leben soll aber offensichtlich nicht an den Kategorien gerüttelt werden. Das bekommen vor allem jene Menschen bitter zu spüren, die ohne eindeutige Geschlechtsmerkmale auf die Welt kommen. Es gibt keine Zahlen, wie viele das betrifft, aber es ist eine noch verbreitete Meinung, dass diese Existenz „dazwischen“ nicht lebbar ist. Deshalb tut die Medizin alles, um die Kinder so schnell als möglich zu „vereindeutigen“. Genitalbeschneidungen aus religiösen oder kulturellen Gründen gelten als Menschensrechtsverletzung. Bei Interkindern ist die geschlechtszuweisende Operation dagegen Standard. Sie werden zwangsdefiniert – ohne ihre Einwilligung und ohne zu wissen, ob sie später tatsächlich in dem ihnen zugewiesenen Geschlecht werden leben wollen.

Fließende Grenzen statt Schubladendenken

Was schert uns diese Minderheit, mag man denken. Aber es sind längst nicht nur sie, die an den Kategorien rütteln. Die Causa Hornscheidt und die damit verbundene Genderdebatte ist keineswegs Privatsache oder „ein Luxusproblem einer verblödeten Gesellschaft“, wie einer im Internet kommentiert. Im Sport taucht das Problem regelmäßig auf – zuletzt bei der südafrikanischen Läuferin Caster Semenya. Der Leichtathletikverband ordnete eine „Überprüfung des Geschlechts“ an und teilte danach mit: „Es ist klar, dass sie eine Frau ist, aber vielleicht nicht zu hundert Prozent.“

Solche Beispiele könnten ein Hinweis darauf sein, dass die Grenzen zwischen den Geschlechtern nicht starr, sondern fließend sind und es zu kurz greift zu glauben, dass es neben dem Gros an hundertprozentigen Männern und Frauen halt noch ein paar Kranke gibt. Auch die Betroffenen wehren sich, pathologisiert zu werden, und wollen nicht länger hinnehmen, dass man sie in einer Demokratie in eine der beiden Schubladen zwingen will, nur weil andere sich darin wohlfühlen.

Wenigstens auf Facebook hat man die Wahl

In Facebook können die Nutzerinnen und Nutzer inzwischen in der Kategorie Geschlecht unter fünfzig Optionen wählen: „Cis woman“ und „Gender Fluid“ stehen zur Auswahl, „Non-binary“, „Transgender Female“ oder „Two-Spirit“. Man muss nicht wissen, was das jeweils bedeutet. Aber diese neuen Begriffe könnten Menschen helfen, die sich in keiner der Schubladen zu Hause fühlen. Mit einem Label wie „Dragqueen“ oder „Female to Male“ lässt sich mitunter erst richtig fassen, was man zuvor nur diffus spürte. Das lässt sich auch an dem Begriff „schwul“ ablesen, der heute fast inflationär auf Schulhöfen benutzt wird. „Früher hatten Jugendliche häufiger gleichgeschlechtliche sexuelle Erfahrungen als heute“, sagt die Genderforscherin Sabine Grenz, „inzwischen kommt das seltener vor, weil einige sich schon zu Beginn der Pubertät im Klaren darüber sind, dass sie heterosexuell sind“. Denn die Jugendlichen kennen die verschiedenen Identitäten und versuchen häufig früh, sich selber zuzuordnen. Über die Sprache kann Identität greifbar werden.

Wann ist ein Mann ein Mann? Geschlecht, sagt Sabine Grenz, konstruiert sich durch das Wechselverhältnis zwischen dem, woran man sich orientiert und dem, „was von außen an Anforderungen auf einen zukommt“. Das verändert sich je nach Lebensphase. Dennoch gibt es im Alltag viele Nischen, in denen der Genderswitch möglich ist: beim Karneval, im Chatroom oder auch bei Computerspielen.

Ist, wer nicht ins Schema passt, einfach „falsch“?

Es gibt Menschen, die sich überhaupt nicht mit ihrem biologischen Geschlecht identifizieren. Sie können heute den langen Weg der „Transition“ und einer geschlechtsangleichenden Operation gehen, aber auch danach gelten sie oft nicht als „richtige“ Frau oder „richtiger“ Mann.

Das bekommen sie wie intergeschlechtliche Menschen und oft auch Homosexuelle an einem Ort besonders deutlich zu spüren: der öffentlichen Toilette. Welche sie auch benutzen, stets müssen sie sich anhören „Sie sind hier falsch!“ Ein Satz, der im Grunde auf die gesamte Gesellschaft übertragen werden kann: Wer nicht reinpasst, ist falsch.

Es beginnt bei der Geburtsurkunde

In einigen Berliner Bezirken gibt es inzwischen eine dritte Unisex-Toilette. Der Ethikrat hat auch eine Gesetzesänderung initiiert: Seit einem Jahr können Eltern in Deutschland ein „X“ in der Geburtsurkunde eintragen, wenn das Geschlecht ihres Kindes nicht eindeutig ist. Aber so wird das Kind doch wieder stigmatisiert, keines von beidem und damit nicht richtig zu sein. Auch aus rechtlicher Sicht ergeben sich neue Probleme, denn in Deutschland dürfen nur Mann und Frau heiraten. Wären Menschen mit einem X in der Urkunde also von der Ehe ausgeschlossen?

Der Ethikrat hatte übrigens empfohlen, über die völlige Abschaffung eines solchen Eintrags nachzudenken. Wohlgemerkt: es würde um die Abschaffung des Eintrags im Geburtsregister gehen und nicht um die Abschaffung von Mann und Frau, wie konservative Geister bei solchen Vorstößen oft reflexhaft fürchten. Aber ein Signal wäre es sehr wohl, wenn zumindest an dieser Stelle nicht explizit darauf hingewiesen würde, welches Geschlecht ein Mensch hat. Denn ist es wirklich so wichtig, das zu betonen?

Trans- und intergeschlechtliche Menschen werden um weitere Rechte kämpfen. Parallel zu dieser Liberalisierung werden sich die konservativen Bestrebungen vermutlich verstärken, denn wer sich an traditionellen Rollenbildern orientiert, braucht sich womöglich schmerzhafte Fragen zur eigenen Identität nicht stellen.

Sollten wir uns nicht mehr Freiheit gönnen?

Aber wer weiß, vielleicht wäre es ja auch eine Entlastung, nicht ständig sich und der Gesellschaft beweisen zu müssen, dass man zweifellos zu dieser oder jener Kategorie gehört – sondern einfach sein könnte, wie man ist. Im modernen Arbeitsleben werden längst von allen vielfältige Qualifikationen gefordert, vermeintlich männliche wie weibliche. Da wirkt eine so extrem geschlechterfixierte Gesellschaft letztlich anachronistisch.

Flexibilität ist gefragt – hier nicht

Übrigens ist sie auch keineswegs so frei, wie man vielleicht glauben mag. Nicht alle Mädchen würden sich aus freien Stücken für einen rosafarbenen Schulranzen und lange Haare entscheiden, und nicht alle Jungen finden Piraten toll. Hier wirkt der Druck des Kollektivs enorm.

Uta Schirmer würde sich in jedem Fall wünschen, dass Geschlecht „weniger gewaltvoll, rigide und nicht auf zwei beschränkt wäre“, wie sie sagt. „Ich möchte niemandem absprechen, dass er oder sie sich wohlfühlt als Mann oder als Frau“, meint sie, „aber es würde mich wirklich interessieren, wie man in einer Welt lebt, in der es nicht von Anbeginn unserer Tage eine Forderung ist, eines von zwei Geschlechtern zu sein.“