Rund 99 Prozent der menschlichen DNA sind keine Gene. Haben sie dennoch eine Funktion? Und was für eine! In einem internationalen Großprojekt haben Hunderte von Forschern untersucht, wie sich das Erbgut selbst steuert.

Stuttgart - Vergleicht man die Erforschung des Erbguts mit der Erkundung einer Millionenstadt, so haben die Wissenschaftler vor elf Jahren ein Straßenverzeichnis in die Hand bekommen. Im Juni 2001 hatten zwei Forschergruppen das erste vollständige Erbgut eines Menschen präsentiert, eine lange Reihe, in der sich die Buchstaben A, C, G und T drei Milliarden Mal in verschiedenen Variationen wiederholen – gewissermaßen die Aufzählung aller Straßen der Stadt. Doch was fehlte, war ein Stadtplan, der anzeigt, wo sich die Straßen befinden, wie sie miteinander verbunden sind und wo die Ampeln stehen.

 

Dieser Stadtplan, also eine Art Gebrauchsanleitung für das menschliche Erbgut, soll nachgeliefert werden. 442 Wissenschaftler aus 32 Institutionen aus den USA, Großbritannien, Spanien, Singapur und Japan sind diesem Ziel nun in fünf Jahren Arbeit ein Stück näher gekommen. In 30 Studien, die heute zeitgleich in den Fachzeitschriften „Nature“, „Genome Biology“ und „Genome Research“ erscheinen und für jeden Forscher offen zugänglich sind, stellen sie eine erste Kartenskizze namens „Encode“ vor.

Zwar wissen die Forscher nicht, wie viele Details auf dieser Karte noch fehlen, trotzdem versuchen bereits einige von ihnen mit diesen Daten zu arbeiten. Sie untersuchen, wie der Körper mit seinem Erbgut umgeht: wann er welchen Teil davon nutzt, wie dadurch Krankheiten entstehen und was davon den Menschen zum Menschen macht. Einige dieser ersten Anwendungen der Encode-Daten erscheinen nun im Fachmagazin „Science“.

Die Genanalysen ließen viele Forscher ratlos zurück

Das Projekt Encode – oder die Enzyklopädie der DNA-Elemente – hat einen wahren Datenberg produziert: 15 Billionen Bytes, zusammengetragen aus 1647 Experimenten. Eines der Ergebnisse ist, dass mindestens 80 Prozent des Erbguts irgendeine Funktion hat – und nicht nur die ein bis zwei Prozent, die Gene genannt werden. Von dem insgesamt 1,84 Meter langen Erbgutfaden in jedem Zellkern hielt man lange nur knapp vier Zentimeter für interessant – die Stellen, an denen die Gene sitzen. In der Wissenschaft ist der große Rest der DNA auch Junk-DNA (englisch für: Müll-DNA) genannt worden, doch diese Bezeichnung ist offenbar falsch gewählt.

Nach der Entzifferung des Erbguts hatten sich die Wissenschaftler zunächst auf einige auffällige Regionen konzentriert, in denen Eiweiße hergestellt werden, die Bausteine des Lebens. Die Blaupausen für die Eiweißproduktion liefert das Erbgut: Es wird bei Bedarf in jeder Zelle des Körpers abgelesen und in ein Eiweißmolekül umgesetzt. Sind die Eiweiße fehlerhaft – etwa, weil es kleine Änderungen in der Blaupause gab – können die Zellen nicht richtig funktionieren und es kommt zu Krankheiten. Belege dafür gab es etliche: Viele klassische Erbleiden werden durch einzelne Veränderungen in den Genen verursacht.

Doch solche Erbleiden sind selten. Und die Suche nach den genetischen Ursachen der großen Volkskrankheiten erwies sich als ein Stochern im Nebel. Zwar fand man ab und an ein Gen, das zum Beispiel bei Herzkranken, Dementen oder Diabetikern öfter auftritt als beim Rest der Bevölkerung. Allerdings erhöhte es das Krankheitsrisiko immer nur um ein paar Prozentpunkte. Viele, die ein verändertes Gen in sich tragen, bleiben gesund.

Weil die Technik immer billiger wurde, mit der das Erbgut eines Menschen entziffert werden kann, kamen Studien auf den Markt, in denen das Erbgut großer Patientengruppen analysiert wurde. Diese Studien lieferten meist kryptische Ergebnisse: Das Erbgut war in fast 90 Prozent der Fälle an Stellen außerhalb der einschlägigen Gene verändert – also dort, wo es eigentlich egal sein sollte. Viele Forscher waren ratlos und interpretierten es entweder als einen Hinweis auf das nächstgelegene Gen oder legten solche Ergebnisse komplett beiseite.

Das Ablesen der Gene ist nur die unterste Ebene des Systems

Nun wird mit dem Projekt Encode das ganze Ausmaß des Irrtums deutlich. Denn die Arbeiter an den Werkbänken des Lebens sind nur die unterste Hierarchieebene. Über ihnen gibt es etliche weitere Leitungsebenen und Schaltzentralen, die ihnen sagen, ob sie in Nachtschichten schuften müssen oder Dauerurlaub nehmen können. Nicht immer sitzen diese Regulatoren direkt im Nebenzimmer. Meist geben sie ihre Anordnungen von einer Schaltzentrale aus per Ferngespräch weiter. Möglich wird das durch die dreidimensionale Faltung des Erbgutfadens in einem Chromosom. Über die Schlaufen werden Erbgutregionen zu Nachbarn, die eigentlich weit voneinander entfernt sind.

„Wir haben vier Millionen Schalter gefunden, wo sich ein Eiweiß an eine kurze Erbgutsequenz bindet und so Gene an- und ausschaltet“, sagt John Stamatoyannopoulos von der Universität von Washington in Seattle, der an den Studien beteiligt war. „Nur ein Bruchteil der Schalter ist für alle untersuchten Zelltypen zuständig, die meisten sind Spezialisten.“ Bei etlichen dieser Schalter konnten die Forscher bereits sagen, welche Gene sie steuern. Mit diesem Wissen könne man nun die Daten aus den großen Genomanalysen neu interpretieren. „Das Geld wurde nicht nutzlos ausgegeben“, sagt Stamatoyannopoulos.

Gleichzeitig ergaben die Untersuchungen des Encode-Teams, dass mindestens 75 Prozent der Erbgutsequenzen in die Verkehrssprache der Zelle, die RNA, übersetzt werden. Die meisten der RNA-Stränge sind jedoch keine Blaupausen für Eiweiße, sondern haben ebenfalls Regulationsfunktionen. Manche beinhalten die Instruktionen für die Schalter, andere verstehen die Forscher bislang noch gar nicht. Stamatoyannopoulos ist trotzdem optimistisch: „Das kriegen wir auch noch raus.“

Was bedeuten die Erkenntnisse für die Medizin?

Sven Diederichs von der Universität Heidelberg und dem dortigen Deutschen Krebsforschungszentrum: „Man nimmt an, dass Krebs eine Krankheit des Genoms ist. Viele Erbgutveränderungen, die wir in Tumoren gefunden haben, betreffen aber gar keine Gene, sondern die Stellen dazwischen. Die hat man lange Zeit stiefmütterlich behandelt und sie einfach ignoriert. Das Projekt Encode zeigt uns nun mit dieser ersten umfassenden Enzyklopädie der Regulationsmechanismen, dass diese Regionen mindestens ebenso wichtig sind. Das ist ein Meilenstein, der zum einen viele kleinere, frühere Studien bestätigt und viele weitere Studien anregen wird. Forscher können künftig einfach nachschlagen, ob Veränderungen außerhalb der Gene eine Funktion haben und ob man diese Funktion schon kennt. Der Blick auf die Daten wird dadurch zielgerichteter. Gleichzeitig verändert sich unsere Sicht, was ein Gen ist. Denn Abschnitte im Erbgut, die in RNA übersetzt werden, haben ja wichtige Aufgaben – auch wenn sie nicht die Blaupause für Eiweiße sein sollten. Uns interessiert zum Beispiel, welche Rolle solche sehr kurze und sehr lange RNA-Stränge bei Leber- und Lungenkrebs spielen.“

André Fischer, Sprecher des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen in Göttingen: „Das An- und Abschalten von Genen ist wohl nirgends so wichtig wie in unserem Gehirn. Diese Schalter werden jedes Mal gebraucht, wenn sich eine Nervenzelle verändert, weil wir zum Beispiel etwas lernen oder weil wir eine Erinnerung abrufen wollen. Wir wollen besser verstehen, wie diese Schaltnetzwerke normalerweise funktionieren und was bei Demenzen an ihnen gestört ist. Das Projekt Encode zeigt, dass mindestens 75 Prozent des Erbguts abgelesen wird – oft werden diese Abschriften nicht in Eiweiße übersetzt, sondern sie erfüllen andere Aufgaben. Einige Varianten verstehen wir mittlerweile recht gut: Sie behindern das Ablesen bestimmter Gene und greifen damit in die Eiweißnetzwerke der Nervenzellen ein. Bestimmte Arten können möglicherweise als frühes Warnzeichen einer Demenz wie Alzheimer dienen oder durch Medikamente unterdrückt werden, so dass sich das Erinnerungsvermögen nicht weiter verschlechtert. Allerdings gibt es viel mehr lange Abschriften, deren Funktion wir nicht einmal ahnen. Es bleibt also noch viel zu tun!“

Wolfgang Poller, Kardiologe an der Universitätsklinik Charité in Berlin: „Als das menschliche Erbgut entziffert wurde, dachten wir: Wenn wir die Gene kennen, dann wissen wir auch, wie die Volkskrankheiten entstehen und wie man sie behandeln muss. Doch die Natur ist viel komplexer, als wir es uns ausgemalt haben. Die etwa 20.000 Gene sind nur die unterste Ebene. Obendrauf kommen etliche regulatorische Ebenen. Erkrankungen des Herzmuskels können zum Beispiel klassische Erbleiden sein, die wirklich nur durch eine Genmutationen ausgelöst werden. Das ist aber sehr selten. Viel öfter kommt es vor, dass Patienten mit demselben Genprofil zum Beispiel eine Virusinfektion hatten oder eine Bestrahlung machen mussten oder an einer Autoimmunkrankheit leiden, die sich auch gegen das Herz richtet – und der eine verkraftet das extrem schlecht und braucht später eine Transplantation, der andere dagegen kommt gut damit klar. Der Unterschied liegt in der Regulation. Wenn wir das nun etwas besser durchschauen, können wir auch besser einschätzen, wer eine aggressive Therapie braucht und wessen Körper sich selbst zu helfen weiß.“