Eine neue Studie legt nahe, dass Eltern nicht nur ihre (dick machenden) Gene, sondern auch ihre (schlechten) Essgewohnheiten vererben.

Stuttgart - Schon seit Jahren begleitet das Wort „Fettsucht-Epidemie“ die globale gesundheitspolitische Debatte. Doch so unschön der Ausdruck, so bedeutend der Hintergrund: Immer mehr Menschen sind stark übergewichtig und bekommen einen Typ-2-Diabetes. Altersdiabetes sagt dazu kaum noch jemand, weil immer häufiger auch junge Menschen erkranken. Weltweit schätzt man die Zahl der Diabetiker auf 380 bis 415 Millionen, Tendenz rapide steigend.

 

Es wird also höchste Zeit, der Zuckerkrankheit mit geeigneten Präventionsmaßnahmen effektiver vorzubeugen und sie mit neuen Medikamenten noch besser zu behandeln. Das gilt natürlich auch für Deutschland: Nach den Zahlen der sogenannten LIFE-Gesundheitsstudie haben hierzulande mehr als ein Fünftel der über 60-Jährigen Diabetes. Fast ein Drittel ist fettsüchtig, das heißt, der Body-Mass-Index beträgt 30 oder mehr (BMI: Körperge-wicht in Kilogramm, geteilt durch das Quadrat der Körpergröße in Meter). Beides ist nicht nur für sich genommen schädlich, es erhöht auch das Risiko für eine Menge anderer Leiden, von Herz-Kreislauf-Krankheiten über Depressionen bis Krebs.

Verstärken sich die Ernährungssünden?

Auf der Suche nach den Ursachen kommt nun eine völlig neue Komponente ins Spiel: Wenn sich Menschen ungesund ernähren, erhöhen sie vermutlich nicht nur ihr eigenes Krankheitsrisiko. Sie geben die Neigung zu Übergewicht und Diabetes auch an ihre Kinder weiter. Dies legt zumindest eine Studie mit Mäusen nahe, die Forscher aus München jetzt im Fachblatt „Nature Genetics“ publiziert haben. Stimmen die Resultate, würden sich die Ernährungssünden der Menschheit von Generation zu Generation verstärken. Das Tempo der Fettsucht-Epidemie würde sich permanent beschleunigen – ganz so, wie es die Statistiken tatsächlich zeigen.

Den Münchner Forschern ging es um einen ganz neuen Effekt, dessen Existenz in Fachkreisen zumindest für den Menschen umstritten ist: die transgenerationelle, also generationenübergreifende epigenetische Vererbung. Die Epigenetik erforscht biochemisch gespeicherte Anweisungen zur Regulation der Gene in einer Körperzelle (siehe Kasten). Gelangen solche „Gebrauchsanweisungen“, die der Zelle sagen, was sie mit sich anstellen soll, auch in Ei- oder Samenzellen, können sie theoretisch gemeinsam mit den Genen an Kinder und womöglich sogar Enkel und Urenkel vererbt werden. Das ist aber etwas, was laut Biologie-Lehrbüchern nicht existieren darf – nämlich eine generationenübergreifende Vererbung von Umweltanpassungen.

Die Lehrbücher müssen wohl überarbeitet werden

Nun wird man die Lehrbücher wohl überarbeitet müssen. Denn: „Ein durch die Ernährung erworbener Diabetes kann über die Keimbahnzellen, also über Eizellen und Spermien, vererbt werden“, fasst Studienleiter Johannes Beckers vom Helmholtz Zentrum München das wichtigste Resultat seiner Arbeit zusammen. Entscheidend ist der Hinweis, dass die Mäuse im Experiment ihren Diabetes zunächst als Folge einer falschen Ernährung „erwarben“, dass er also nicht auf eine im klassischen Sinn erbliche genetische Veranlagung zurückzuführen war.

Es sind mittlerweile zwar rund 70 genetische Varianten bekannt, die das Diabetesrisiko beeinflussen. Doch zum einen hat jede einzelne nur geringe Wirkung, zum anderen lässt sich das Tempo der Fettsucht-Epidemie durch Veränderungen der Gene und des Ernährungsverhaltens der Bevölkerung alleine nicht hinreichend erklären.

Dem unbekannten Faktor auf der Spur

Es muss noch einen bislang unbekannten Faktor geben. Und genau dem sind Beckers und Kollegen auf der Spur: Hatten beide Maus-Eltern Übergewicht und neigten zur diabetestypischen Unempfindlichkeit für das Hormon Insulin, war auch das Erkrankungsrisiko der Nachkommen am höchsten. War nur ein Elternteil betroffen, war die Krankheitstendenz der Jungen weniger stark, aber deutlich erhöht. Doch damit nicht genug: Bei den Töchtern schlug sich die Fehlernährung der Eltern eher im Körpergewicht nieder, die Söhne neigten vermehrt zu Diabetes. Und es war etwas problematischer, wenn nur die Mutter dick und diabetisch war, als wenn es nur dem Vater so erging. All diese Details passen gut zu Beobachtungen bei Menschen.

Dass die Veranlagung zu Stoffwechselstörungen wahrscheinlich auch auf epigenetischem Weg vererbt wird, haben seit dem Jahr 2010 verschiedene Forscherteams aus aller Welt mehrfach in Experimenten mit Nagetieren gezeigt. Fast immer waren aber nur die Väter fehlernährt worden. Da sie anders als die Mütter außer bei der Zeugung im Leben der Jungen keine Rolle mehr spielen, konnte man störende Umwelteinflüsse viel besser ausschließen.

Das Dilemma geschickt gelöst

Diesem Dilemma wichen die Münchner nun geschickt aus. Sie haben die zuckerkranken und übergewichtigen Elterntiere nämlich nicht einfach verpaart, um dann nachzuschauen, was in der nächsten Generation geschieht. Sie zeugten die nächste Generation per künstlicher Befruchtung, und ließen die Jungtiere von „Leihmüttern“ austragen, die lebenslang normal ernährt worden waren und weder zu Übergewicht noch zu Diabetes neigten.

„So können wir sicher sein, dass die Vererbung, die wir sehen, tatsächlich über Eizellen und Spermien an die Nachkommen weitergegeben wurde“, sagt Beckers. Andernfalls hätten die Jungen schon deshalb ein erhöhtes Krankheitsrisiko gehabt, weil sie bereits im Leib der diabetischen Mutter überernährt worden wären. Das ist etwas, was auch für Menschen längst belegt ist. Die neuen Resultate sprechen also klar für eine transgenerationelle epigenetische Vererbung. Was sie indes nicht beantworten, ist die Frage, auf welche Weise die Information in den Keimzellen abgespeichert war und wie es gelang, später die beteiligten Organe der Jungtiere – etwa die Bauchspeicheldrüse, das Gehirn oder das Fettgewebe – umzuprägen. Auch die Frage, ob die Umweltanpassung in der Keimbahn gespeichert bleibt und an Enkel und Urenkel weitergereicht wird, ist noch offen.

Auch psychische Belastungen vererben sich

Beckers und Kollegen haben also noch viel zu tun. Weiterhelfen könnten Forscher, die die Erblichkeit psychischer Belastungen bei Mäusen untersuchen. Auch Informationen über extremen Stress gelangen nämlich per Ei- und Samenzelle zu den Nachkommen. Eine übersteigerte Ängstlichkeit und Antriebsschwäche lässt sich bei den Nachfahren traumatisierter Mäuse sogar noch vier Generationen später messen. Zudem gibt es dabei auch Hinweise auf die Übertragungsmechanismen. Isabelle Mansuy, Hirnforscherin an der Universität und der ETH Zürich, ist überzeugt, dass die transgenerationelle Epigenetik unser Verständnis psychischer Erkrankungen verändern wird: „Die Symptome, die unsere gestörten Mäuse zeigten, sind auch bei Borderline-, Depressions- oder Schizophrenie-Patienten prominent vertreten.“

In eine ähnliche Richtung denken auch die Münchner Diabetologen. Co-Autor Martin Hrabě de Angelis hofft, dank der neuen Erkenntnisse die verschiedenen Unterarten der Zuckerkrankheit eines Tages besser erkennen und gezielter behandeln zu können: „Typ-2-Diabetiker sind nicht alle gleich.“ Vor allem aber seien die Erkenntnisse wichtig für die Vorsorge: „Die Prävention ist im Fokus.“ Tatsächlich spricht viel dafür, dass Investitionen in Programme, die zukünftige Eltern vor starkem Übergewicht bewahren, sich in der folgenden Generation auszahlen könnten.

Die Erweiterung der Genetik

Epigenetik
Die Epigenetik ist eine Art Zusatz- oder Nebengenetik (Altgriechisch: epi für neben, zusätzlich, über). Epigenetiker beschäftigen sich mit biochemischen Strukturen, die den genetischen Code zwar nicht verändern, aber wie elektrische Schalter oder Dimmer die Aktivierbarkeit einzelner Gene beeinflussen. Entscheidend dafür sind variable chemische Anhängsel, zum Beispiel Methyl- oder Acetylgruppen. Die Zellen montieren diese Zusätze gezielt an ihre Gene oder an benachbarte Proteine oder entfernen sie wieder.

Epigenom
Die Gesamtheit der epigenetischen Markierungen einer Zelle bildet ihr Epigenom. Je nachdem, in welchem Gewebe eine Zelle wächst oder welchen Umwelteinflüssen sie ausgesetzt ist, unterscheidet sich ihr Epigenom von dem anderer Zellen. Das Epigenom verleiht der Zelle eine Identität beispielsweise als Nerven-, Haut- oder Leberzelle und stellt ein Gedächtnis für Umwelteinflüsse dar.

Generationen
Lange bekannt ist, dass Zellen während der Teilung auch ihre Epigenome an Tochterzellen weitergeben. In früher Kindheit gespeicherte Informationen – etwa über eine gesunde Ernährung, das Klima, Vergiftungen oder psychische Belastungen – wirken deshalb bis ins hohe Alter nach. Neueste Studien legen nun die Vermutung nahe, dass solche epigenetischen Prägungen mitunter über Samen- und Eizellen auch an nachfolgende Generationen vererbt werden.