Die Ernte ist eingefahren und der Müller Ingolf Schäfer zufrieden mit der Qualität. Die genossenschaftlich geführte Getreidemühle in Oberjesingen besteht seit fast 100 Jahren. In der Branche sinkt die Zahl der Betriebe ständig.

Böblingen: Kathrin Haasis (kat)

Herrenberg - Der Lärm ist ohrenbetäubend, aber Ingolf Schäfer ist zufrieden. In sechs Maschinen wird der Weizen zu Mehl gemahlen. Der Müller klappt eine Luke auf, nimmt eine Probe heraus und zerreibt sie zwischen den Fingern. „Wir machen nur Qualitätsmehle“, sagt er über die Oberjesinger Getreidemühle. In der Genossenschaft in dem Herrenberger Stadtteil läuft der Betrieb wie vor fast 100 Jahren. Dabei hat sich in der Branche viel gewandelt. „Aber wir sind optimistisch“, sagt Ingolf Schäfer über die Zukunft. Gegessen werde schließlich immer, und Brot sei ein Grundnahrungsmittel. Außerdem könne das traditionelle Geschäftsmodell gerade wieder in Mode kommen.

 

Lange Schlangen vor der Abgabe

Lange Schlangen haben sich in den vergangenen drei Wochen wieder vor der Getreidemühle gebildet. Bis spät in die Nacht kamen die Landwirte mit ihrem Weizen angefahren. Mittlerweile ist die Ernte so gut wie eingeholt, und Ingolf Schäfer ist deshalb zufrieden, wenn auch ein bisschen geschafft. „Die Qualität ist gut“, sagt er über das Getreide, das die Bauern vor dem Silogebäude in einen Schacht kippen. Noch von Hand trägt er die Mengen in ein Wagenbuch ein. An einem Analysegerät misst er den Proteingehalt der Körner, danach werden sie sortiert. Die vollen Silos leeren sich dann langsam über das Jahr, zwölf Tonnen Mehl produziert die Getreidemühle werktäglich, etwa 3000 Tonnen im Jahr.

Im Jahr 1921 haben sich die Bauern zusammengetan, um ihr Getreide gemeinsam zu vermahlen und zu vermarkten. Seither ist alles weniger geworden: Aus den rund 600 Mitgliedern in der Spitzenzeit wurden 140, die allerdings größere Flächen bearbeiten, die Preise sind gesunken und die Zahl der Kunden ebenfalls. Kürzlich gab Martin Sessler bekannt, seine Mühle in Renningen zum Jahresende zu schließen. Gesundheitliche Gründe sind der Auslöser dafür. Die Mühle wird abgerissen, um Platz für ein Seniorenheim zu schaffen. Sie weiter zu betreiben sei wegen des schwierigen Marktumfelds kaum möglich, erklärte der Besitzer. Von den 19 Bäckereien, die er einst belieferte, bestehen noch sieben.

Kurze Wege sind ein Vorteil für die Landwirte

Vier Getreidemühlen bleiben den Landwirten im Kreis Böblingen noch: Neben Oberjesingen haben sie Anlaufstellen in Herrenberg-Gültstein, Altdorf und Aidlingen. Jeder Betrieb sei wichtig, sagt Andreas Kindler, der Vorsitzende des Kreisbauernverbands: „Wir haben kurze Wege, das ist toll und ein großer Vorteil.“ Etwa 90 Prozent seiner Kollegen lieferten ihr Getreide bei den aktuell noch fünf Mühlen ab. Nur wenige lagerten es in eigenen Silos und spekulierten auf bessere Preise. Für die Versorgung der Bevölkerung seien die Mühlen wie die Landwirte essenziell wichtig, findet Andreas Kindler, „sonst sind wir komplett vom Ausland abhängig“.

Die Getreidemühle Oberjesingen hat zwei Vertriebskanäle: Sie beliefert Bäcker in der Umgebung und verkauft ihre Produkte im eigenen Mühlenladen. Ein Online-Shop ist geplant. Um in Supermärkten vertreten zu sein, wäre eine Absackanlage nötig. Aber die Ein-Kilo-Pakete werden von Hand abgefüllt. Abgesehen vom fehlenden Biozertifikat ist das regional produzierte Oberjesinger Mehl ein Paradebeispiel für klimafreundliches Einkaufen. Dass der Betrieb überhaupt noch besteht, ist einem Unglück zu verdanken: 1981 brannte das Gebäude komplett ab und wurde mit der heutigen Technik wieder aufgebaut. „Das war die Überlebenschance der Mühle“, sagt Ingolf Schäfer. Denn mittlerweile wären solche Investitionen nicht mehr möglich.

Der Weizen durchläuft den Kreislauf 16-mal

Über drei Stockwerke zieht sich die Mehlherstellung. Erst wird der Weizen geschrotet, im zweiten Stock wird er gemahlen, im dritten sortiert ein riesiges Sieb das Ergebnis je nach Größe. Genau 16-mal durchläuft ein Weizenkorn den Kreislauf, bis nur noch Mehl, Grieß und Weizenkleie übrig ist. Seit 1990 überwacht Ingolf Schäfer den Prozess, er ist Müller in fünfter Generation. „Mein Sohn hat sich auch schon eingefuchst“, erzählt er stolz, aber seine Frau will lieber, dass der Junge ein Studium absolviert. „Eigentlich dürften wir nie arbeitslos werden“, sagt der 59-Jährige über seinen Beruf. Jede Hausfrau erkenne gutes Mehl sofort beim Backen. „Der Kuchen wird lockerer, schmeckt besser“, sagt er und zerreibt sein feinstes Mehl zwischen den Fingern.