Luftakrobaten, schwärende Wunden und Adler im Sturzflug: Die Kunstmuseen, allen voran die Fondation Beyeler in Riehen bei Basel, gratulieren dem Verkehrtrum-Maler und Altrebell Georg Baselitz zum Achtzigsten.

Basel - Kopf runter, Füße hoch! Seit 1969, als er das Porträt seiner Frau Elke um 180 Grad gedreht an die Wand hing, ist der kopfüber dargestellte Mensch das künstlerische Erkennungszeichen von Georg Baselitz. Hunderte Gesichter, Halb- und Ganzkörperfiguren hat er so in schwerelose Bildräume hinabhängen lassen. Im internationalen Auktionspreisranking sind die Arbeiten des Malers und Bildhauers nach Gerhard Richter das Zweitteuerste, was die deutsche Gegenwartskunst zu bieten hat. An diesem Dienstag wird Baselitz, der Skandaleur und Altrebell, achtzig Jahre alt.

 

Doch wie so oft, wenn sich ein Motiv zur Marke verfestigt, geht viel von dem, was hinter der ursprünglichen Idee steckt, in den Schlagworten und Klischees verloren. Längst steht für Lobredner wie für Kritiker (von beidem hat er reichlich) fest: Baselitz ist der Verkehrtrum-Maler, Punkt! Dabei ist seine Masche so simpel nicht. In der Kunstgeschichte war die Figur, die mit dem Kopf nach unten weist, meistens der Leidende. Man denke an die Kreuzigung Petri bei Rubens, an den geschändeten Marsyas von Tizian oder all die Verdammten, die mit dem Haupt voran in den Höllenschlünden des Weltgerichts verschwinden.

Baselitz’ Figuren dagegen nehmen den eigenen Absturz auffällig gelassen hin. Oft hängen die Arme locker neben dem Körper herab wie bei einem ganz normal Stehenden. Daher rührt der Eindruck der aufgehobenen Gravitationskraft. Zwar zeigt der Künstler seine Luftakrobaten in der Position der kopfüber Aufgehängten und Gemarterten, verzichtet aber auf andere Zeichen von Gewalt wie Henkersknechte oder Foltergerät.

Soldaten im Dreckslochland

Dennoch, das Pathos erlittener Grausamkeit ist bei Baselitz in den Anfängen mitgedacht. Eindrücklich belegt das auch die Werkschau, mit der die Fondation Beyeler in Riehen bei Basel dem Künstler gratuliert. Den Besucher empfängt eine Wand voller kleinerer Formate. Auf jedem ein amputierter Fuß. 1960 bis 1963 entstanden, leiten die medizinischen Schauerstücke mit ihrem rohen Fleisch, den eitergelb schwärenden Wunden zu jenem Zyklus über, der (in Auswahl) nebenan hängt und der aufwühlender, epochaler ist als alles, was Baselitz später gelang: die „Helden“-Bilder von 1965. Hoch gewachsene Soldaten mit kleinen Köpfen wanken durch ein fiktives Dreckslochland – eine geschlagene Armee.

Ausgerechnet ein rotziger 27-Jähriger, der vor seiner Übersiedlung wegen „gesellschaftspolitischer Unreife“ in Ostberlin von der Akademie geflogen war, malte da, am Vorabend der Studentenrevolte, die Bilder, die Westdeutschland schon eineinhalb Jahrzehnte zuvor gebraucht hätte. Eingeständnisse des Kaputtseins, grob im Pinselduktus, aber erkennbar figürlich in der Anlage. Genau das, was die informelle Generation der späten 1940er und 50er Jahre mit ihren abstrakten Klagegesängen vermieden hatte, um nicht unter sozialistisch-realistischen Ideologieverdacht zu geraten.

Auf Teufel komm raus nach anderen Perspektiven suchen

Bereits in den „Helden“ also, wenngleich sie noch mit den Füßen auf dem Boden stehen, verdreht Baselitz die Werte einer nur vermeintlich fest gefügten Welt. Die martialischen Hünen sind arme Würstchen. Wie der berühmte onanierende Kobold aus „Die große Nacht im Eimer“, der ebenfalls nach Riehen gefunden hat und der bei seiner Erstpräsentation 1964 noch die Staatsanwaltschaft auf den Plan rief. Dass der West-Berliner Galerist Michael Werner den Auftritt der Ordnungshüter geradezu herbeiinszeniert hatte, kam erst viel später heraus. Auf mediale Paukenschläge aber verzichtet Baselitz bis heute nicht. Zuletzt beispielsweise versprühte er im „Spiegel“ geschlechterpolitisches Reizgas („Frauen malen nicht so gut.“) oder polterte gegen das neue Kulturschutzgesetz.

All diese Irritationen entspringen demselben Prinzip: Auf Teufel komm raus nach anderen Perspektiven suchen! Was in den Jugendwerken durch gesellschaftlichen Tabubruch geschah, verlagert sich mit den Kopfstehgemälden auf die formale Ebene. Im Tausch der gewohnten Bildhierarchien wird das Figürliche verfremdet, ohne in der Nachfolge einer klassischen Avantgarde abstrahiert zu sein.

Die Riehener Schau leistet, was man von einer Retrospektive erwartet. Sie berücksichtigt alle Schaffensphasen, trägt Highlights ebenso zusammen wie Unbekanntes und bringt in langen Raumfluchten die Wirkungsmacht der Großformate optimal zur Geltung.

Tiere im Sturzflug, Bäume, die nach unten wachsen

Nicht nur die Porträts, Selbstbilder und Akte sind bei Baselitz im freien Fall. Schon 1970 im „Fertigbetonwerk“ (das Motiv greift den Industrieoptimismus der DDR-Realisten auf) erprobt er die Ästhetik der Umkehrhaltung in einem anderen Genre als der Menschenmalerei. Dem folgen alsbald Bäume, die von oben nach unten wachsen, oder Tiere wie die zerrupften Bundesadler im Sturzflug. Mit der hüftsteifen Hitlergruß-Puppe, die 1980 auf der Venedig-Biennale für Wirbel sorgte, den zerhackten Köpfen der „Dresdener Frauen“ und einem monströsen Playmobilmännchen („Meine neue Mütze“) kommt auch der Skulpteur Baselitz zu seinem Recht. Hat er doch, noch vor Balkenhol, das Gegenständliche auch in der Holzbildhauerei wieder salonfähig gemacht.

Wenn die Werkauslese Baselitz damit vollauf gerecht wird, so gilt das nicht nur im Guten, sondern auch im Schlechten. In den Achtzigern geht der Künstler, etwa in den Angstfratzen des „Brückechors“, zu einem grell zerfahrenen Neoexpressionismus über, wodurch die Figuren einiges von ihrer sinnlichen Präsenz verlieren. Hinter den Neuen Wilden, als deren Pate er manchem Kunsthistoriker gilt, bleibt das ebenso zurück wie die hektisch hingeworfenen Arbeiten der „Remix“-Reihe, in der Baselitz 2006/07 versuchte, das eigene Frühwerk neu zu interpretieren.

Erst jüngste Bilder schaffen es noch einmal, der mit ihrem Schöpfer alt gewordenen Kopfstandidee eine neue Drehung zu geben. Plötzlich sind da nur noch monochrome menschliche Silhouetten. Erscheinungen, körperlos in milchigem Weiß oder ungewöhnlich glühendem Rosa. Als hätten die Gestalten nichts mehr mit der Erde zu tun, der sie aber dennoch zustreben.

Das Kunstmuseum Basel flankiert die Retrospektive der Fondation Beyeler mit einer Bestandsaufnahme der Zeichnungen des Künstlers (beide Ausstellungen bis 29. April). In der Staatlichen Graphischen Sammlung München sind ab 23. Januar Studienblätter zum „Helden“-Zyklus sowie Probedrucke aus Baselitz‘ Künstlerbuch „Malelade“ von 1990 zu sehen (bis 18. Februar). Mit einer Präsentation aktueller Arbeiten im Musée Unterlinden im französischen Colmar kommt der Künstler auch bei unseren Nachbarn zu Ehren (9. Juni bis 29. Oktober).