Der frühere Werbegestalter Gerhard Kühn reflektiert in seiner Collagen-Arbeit politische Zeitthemen wie den Mauerfall

Lokales: Armin Friedl (dl)

Stuttgart - Es gibt Worte, die aktualitätsbedingt nahezu jeden Tag in den Überschriften einer Tageszeitung stehen: „Trump“, „Amoklauf“ oder „Milliardengrab“ etwa, einige Beispiele aus internationaler wie aus regionaler Sicht. Andere überdauern die Jahre: „Krise“, „Glück“, „Gerechtigkeit“ oder „Mausklick“. Gerhard Kühn sammelt all diese Worte und noch viele mehr. Das bedeutet konkret: Er schneidet diese und noch viele andere Worte täglich akkurat aus seiner Tageszeitung aus und sortiert sie nach seinen Gesichtspunkten in Briefumschlägen. Da ist einiges zusammengekommen in seinem Atelier in Botnang: An Briefumschlägen und erst recht an ausgeschnittenen Worten. „Ich schnipsle mal wieder, sagt meine Frau dann“, erklärt Gerhard Kühn und hat dabei ein Lächeln auf den Lippen.

 

Kein Maler, sondern Kleber

Doch Kühn schnipselt nicht nur. Er fügt diese Worte auch wieder zusammen – freilich in einem ganz anderen Zusammenhang, in einer ganz anderen Wirkungsabsicht: Häufig grundiert mit mehreren Farben, schafft er damit Collagen, viele davon im großen Format von einem auf einen Meter. „Ich bin kein Maler im herkömmlichen Sinn, ich bin ein Kleber“, sagt Kühn, „und die Collage ist meine bevorzugte Technik“.

Insofern ist Kühn auch ein Wortakrobat. Freilich einer, der mit seiner täglichen Zeitungslektüre und dem darauf folgenden Schnipseln ganz nah am Takt der Zeit ist. Davon zeugen schon die Titel wie „Abschied von der DM“, „Der Supergau“ oder „Der Euro-Rettungsschirm“. Ein herausragendes Kapitel der deutschen Geschichte hat es ihm besonders angetan: der Fall der Mauer.

Schwindelerregend viele Wortausschnitte

Wir sehen ein Gewölk von zahllosen Überschriftsschnipseln, auf denen nur steht: „Die Mauer“, gelegentlich auch „The Wall“. Darüber liegt noch Stacheldraht, doch es hat sich schon keilartig ein Spalt aufgetan zwischen den Schnipseln, grundiert in Schwarz, Rot und Gold. Noch reduzierter ist der Wortgehalt in einer anderen Arbeit: „Wir“ heißt es da in einer schwindelerregenden Fülle von Zeitungsausschnitten. Daraus ragt, noch etwas schüchtern, aber doch schon klar herausgebildet, die Deutschland-Fahne in Schwarz, Rot und Gold. Der Titel dieser Arbeiten: „Die Mauer“ und „Wir sind ein Volk“.

Auf abenteuerlichen Wegen nach Stuttgart

Entstanden sind sie in den Jahren 2009 und 2010. Das zeigt, wie nachhaltig der historische Mauerfall am 9. November 1989 den heute 84-jährigen Kühn noch beschäftigt. Kühn ist geboren im einstigen Libau, heute Liepaja in Lettland, hatte seine Kindheit in Polen und die Schulzeit in Pritzwalk in Brandenburg verbracht. 1955 flüchtete er aus der DDR, nachdem er erkennen musste, dass ein berufliches Weiterkommen nur mit einem Armeedienst möglich war. Auf abenteuerlichen Wegen kam er Anfang der 1960er Jahre nach Stuttgart.

Eines der wichtigsten Lebensereignisse

Der Mauerfall bleibt für ihn „eines der wichtigsten Ereignisse in meinem Leben“. Kühn: „34 Jahre lang war ich von meinen Eltern und Geschwistern getrennt. Nur unter schwierigen Umständen waren Besuche in Potsdam möglich: Reiseanträge, Passierscheine oder zeitaufwendige Grenzkontrollen. Einmal wurde sogar der Geburtstagskuchen für meine Mutter durchleuchtet.“

Kühn hat hier dann das gemacht, was er schon in der DDR machen wollte, wozu er dort auch eine Ausbildung begonnen hatte: Schaufenstergestaltung. Von 1975 bis 1998 zum Eintritt ins Rentenalter war Kühn freischaffender Werbegestalter in Stuttgart, zeitweise mit mehreren Mitarbeitern. Er arbeitete für Firmen wie Kodak, Bosch, Mercedes oder Fielmann. Kühn hat deren Werbekonzepte konkret umgesetzt: Er hat dazu etwa die dazugehörigen Schaufenster-Dekos entwickelt oder entsprechende Messestände gebaut.

Davon künden auch seine zahlreichen Collagen, die er in seinem Atelier in Botnang anfertigt: Ein ideales Gespür für Farbtöne und deren Signalwirkung, dazu die vielen bis unzählbaren Wortausschnitte, mal als Wimmelbild, mal als nachdrückliche Wiederholung. Dies macht er wie in seinem Beruf wieder freischaffend, jetzt aber mit Künstlern, Galerien und Sammlern als Interessentenkreis.

Heftige Diskussionen bei Klassentreffen

Kühns Blick geht aber auch immer wieder zurück in seine frühere Heimat: „Bei Klassentreffen, die ab 2002 alle zwei Jahre stattfanden, gab es immer wieder heftige Diskussionen zwischen Ossis und Wessis. Auch das Thema ,Unrechtsstaat‘ wurde nicht vergessen. Bei meinen vielen Reisen in den Osten kann ich jetzt sagen, der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl hatte Recht mit seiner Vorstellung von blühenden Landschaften in den neuen Bundesländern. Es ist unvorstellbar, was aus dem DDR-Land geworden wäre, wenn es diese Revolution nicht gegeben hätte. Die positiven Veränderungen ,drüben‘ beobachte ich interessiert, aber leider auch die negativen.