Manche sagen, die Frau sei Kult. Gerlinde Kretschmann, Baden-Württembergs First Lady, ist weltoffen und trotzdem ganz nah bei den Leuten – Halbzeit für die erste grüne Landesmutter.

Sigmaringen - Manche sagen, die Frau sei Kult. Danach sieht es gar nicht aus. Die kleine Dame mit den dunklen Locken und dem braunen Mantel kommt ins voll besetzte Café in der Stuttgarter Innenstadt, und keiner nimmt Notiz von ihr. Kult, fragt Gerlinde Kretschmann und zuckt irritiert mit den Schultern. Was soll das genau sein? Sie neigt nicht zur Verehrung, und sie will auch nicht verehrt werden. Seit zweieinhalb Jahren ist sie protokollarisch die erste Frau des Landes, und sie bewahrt sich so viel Normalität wie möglich. Die Sigmaringerin kommt mit dem Zug nach Stuttgart, der hatte Verspätung. „Ha, hab ich halt gewartet, wie andere Leute auch.“ Einen Fahrer bemüht sie selten. Solche Sachen haben sich nicht geändert im Leben von Gerlinde Kretschmann. Aber sonst einiges. Damals, vor der Landtagswahl 2011, dachte die Grundschullehrerin an den bevorstehenden Ruhestand, an mögliche Reitstunden, vielleicht ein Kunststudium.

 

Inzwischen ist Halbzeit in ihrer inoffiziellen Position als Landesmutter. Dieses Etikett nimmt die 66-Jährige hin, „weil die Leute sich leichter tun, wenn sie mich in eine Schublade einsortieren können“. Nun führt Gerlinde Kretschmann ein Leben außerhalb des Gewöhnlichen. „Ich erlebe Sachen, die ich normal nicht erlebt hätte“, sagt sie mit ihrem Zollernalb-Zungenschlag. Sie hat Präsidenten, Könige und Fürsten getroffen. Auch sie selbst ist eine Attraktion. „Viele Leute wollen ein Bildle mit mir machen“, schmunzelt sie. Das macht sie mit, auch wenn sie vermutet, dass das die Aufnahme in irgendeiner Schublade verschwindet. Sie hätte auch nie gedacht, dass sie mal für die „Bild“-Zeitung Weihnachtsplätzchen backen würde. Kurz stutzt sie, dann sagt sie, „ich darf mich nicht zu prüde aufführen – und Brötle machen, das kann ich verantworten“.

Längst nicht alle Ratschläge befolgt sie

Die passionierte Wanderin geht in ihrer neuen Position ihren eigenen Weg. Tatsächlich hat ihr zu Beginn der Amtszeit jemand empfohlen, einen Kursus zum sicheren Auftreten zu belegen. Sie hat sich den Ratschlag angehört und ihn nicht befolgt. „Ich mach’s so, wie ich es für richtig halte.“

Die Frau des ersten grünen Ministerpräsidenten eines Bundeslandes nimmt die Leute und ihre Aufgabe ernst. Reine Repräsentation liegt ihr nicht, sie ist interessiert an ihren Gesprächspartnern und an den Geschehnissen. Anlässlich einer Dienstreise ihres Mannes nach Südamerika war sie zum ersten Mal außerhalb Europas. Dabei hat sie eines erstaunt: „Anscheinend war ich die Einzige, die noch nie außerhalb Europas war.“ Auf Delegationsreisen absolviert sie nicht einfach das Damenprogramm, sie erkundet die Welt hinter der offiziellen Kulisse. Angesichts der Lage in Israel hat sie sich schwer überlegt, ob sie überhaupt mitfahren soll. Die frühere Grünen-Stadträtin von Sigmaringen hat es sich zur Aufgabe gemacht, auf eigenen Terminen den Menschen und ihren Problemen möglichst nahzukommen. Davon berichtet sie dann ihrem Mann, dem Ministerpräsidenten. „Das ist meine Legitimation, dass ich bei den Fahrten dabei sein kann.“ Bei ihren Begegnungen abseits des Protokolls lässt sie nicht locker, „da frage ich hemmungslos“, und sie hört so einiges, das nicht politisch korrekt ist.

Die Katholikin erfährt Erstaunliches in Japan

In Japan erfährt die Lehrerin aus Laiz, einem Stadtteil von Sigmaringen, warum es dort keine Bettler gibt. „Die würden nichts kriegen.“ Sich um den Nächsten zu kümmern ist ein Thema des Christentums, nicht des Buddhismus, erkennt die Katholikin. Gespräche in Japan und Südkorea bringen sie zu der Erkenntnis, dass die sozialen Strukturen außerhalb der Familie noch aufgebaut werden müssen. „Die sitzen auf einem Pulverfass.“ Solche Gedanken nimmt Kretschmann von den Reisen mit, nicht Souvenirs von Shoppingtouren.

In der medialen Welt der smarten gestylten Society-Ladys ist die Bauerntochter manchmal schwer vermittelbar. Das stört Gerlinde Kretschmann überhaupt nicht. Im Radio beispielsweise, habe ihr mal ein Journalist gesagt, da müsse man schwätzen ohne Punkt und Komma, das liegt der Laizerin nicht. „Dann sag ich, ja, dann muss er halt jemand anders nehmen.“

Das mit dem Großgemusterten weist die First Lady zurück

Nicht betroffen, aber ein etwas verwundert reagiert sie auf das Interesse an ihrer Kleidung. Sogar in der französischen Tageszeitung „Le Figaro“ habe gestanden, sie trage gerne Großgemustertes – das weist sie zurück. Den Artikel hat ihr ein Ehepaar aus Karlsruhe zugeschickt, das in Paris gewesen ist. Bei einem Landespresseball missfiel, dass sie eine Hose trug. „Diesmal ist mein Häs hoffentlich recht“, lautet ihr lapidarer Kommentar, wenige Stunden vor dem Ball. Die Robe ist lang und uni.

Manchmal muss sie sich Zwängen beugen. In der Zwickmühle war sie, als die Bahn ihr die Patenschaft für den Fildertunnel im Projekt Stuttgart 21 antrug. Die S-21-Gegnerin lehnte ab – nicht ohne den Bauarbeitern ihre Wertschätzung zu versichern. Im November hat sie doch zugesagt, die Patenschaft für den Albabstiegstunnel auf der Strecke Wendlingen–Ulm zu übernehmen. Da hatte die politische Korrektheit Vorrang. Und die Neubaustrecke ist streng genommen ein eigenes Projekt, außerhalb von S 21.

Kretschmann engagiert sich für die Alzheimer Stiftung

Mit ganzem Herzen ist die oberste Ehrenamtliche des Landes bei ihren sozialen Projekten dabei. Zusammen mit dem Tänzer Eric Gauthier und dem früheren Staatsrat Konrad Beyreuther bildet sie das Kuratorium der baden-württembergischen Alzheimer-Stiftung und stellt diverse Aktionen auf die Beine. „Wenn’s hilft, mach ich das“ ist das Leitmotiv ihres sozialen Engagements. Auch das Singen ist ihr ein echtes Anliegen. Da stellt sie sich bei den Feiern zum Tag der Deutschen Einheit zusammen mit einer Frauenband auf eine Bühne in der Königstraße und swingt zu Gunsten des Netzwerkes „Singende Krankenhäuser“. Wenn es ums Singen geht, sprudelt es nur so aus Kretschmann heraus. Singen hole Demenzkranke für den Augenblick zurück in die Gemeinschaft, Singen sei gut für Babys im Mutterleib, Singen mache Kranke fröhlich, Singen und Musik müssten in der Schulen wieder einen anderen Stellenwert bekommen. Zeitlebens politisch engagiert versteht sie ihre aktuelle Rolle nicht als die der Beraterin ihres Mannes. Aber über das Singen und Sinneserleben in der Schule hat sie schon mal ein Gespräch mit Mitarbeitern des Kultusministeriums geführt und ihnen versichert, sie würde alle unterstützen, die sich dafür einsetzen.

Oberflächlichkeit versucht Kretschmann zu vermeiden

Jetzt, zur Halbzeit, hält Gerlinde Kretschmann Rückschau und Ausblick. Nein, für zusätzliches Neues will sie sich nicht mehr engagieren. So sehr ihr die Kommunikation liegt, manchmal muss sie auch allein sein. Das gesteht Gerlinde Kretschmann unverblümt ein, sie hat sich ihre unverstellte Ehrlichkeit bewahrt. „Ich kann dieses Immerwährende nicht brauchen“, sagt sie. „Wenn man abends nicht mehr weiß, mit wem man morgens gesprochen hat, dann birgt das die Gefahr der Oberflächlichkeit.“ Das will sie vermeiden und ergänzt beiläufig, „manchmal muss ich auch einfach meinen Haushalt machen“.

Sie will lernen, Nein zu sagen. Doch eine Ausnahme macht sie schon vorab – das sind die Landfrauen. Gerlinde Kretschmann lächelt nachdenklich. Sie selbst ist nicht Mitglied. Sie, die zweitälteste Tochter, tut das im Andenken an ihre Mutter, der die Zugehörigkeit zu dem Verein sehr viel geholfen habe. „Im Alltag mit Landwirtschaft und acht Kindern waren die Landfrauen ihre Oase.“ Deshalb macht Gerlinde Kretschmann heute „für die Landfrauen fast alles“.

Wer vorne sitzt, bekommt leicht Genickstarre

Ihre Erfahrungen verändern die First Lady. „Ich komme nicht so raus, wie ich reingegangen bin“, sagt sie und reflektiert bewusst ihre Rolle. „Die Wichtigkeit erwächst mir durch das Amt meines Mannes.“ Dann ergänzt sie verschmitzt: „Die Gefahr, dass man sich für wichtig hält, ist schon sehr groß.“ Sie führt ein Leben in der ersten Reihe. Was, wenn das vorbei ist? Für Kretschmann kein Problem: „Dann sitz ich wieder da hin, wo’s Platz hat.“ Die Laizerin gewinnt den vorderen Rängen ohnehin wenig ab: „In der ersten Reihe bekommt man leicht Genickstarre und verliert den Überblick.“ Sie will lieber bei den Leuten sein.

So wie neulich, als sie vier Tage von Ulm nach Bad Waldsee wanderte. Sie amüsierte sich köstlich, als sie im Ried hinter Oberdischingen auf einen alten Bauern traf, der auf dem Traktor spazieren fuhr. Der Mann erkannte sie nicht, wollte aber ein Schwätzle halten. Wo geht man hin, ist man ganz alleine, ja und dr Mann? „Ha, der schafft – hoff ich“, erzählt die First Lady und lacht mitten im Café aus vollem Hals.

In der Pilgerherberge gibt Gerlinde Kretschmann Wein aus

Abends in die Pilgerherberge war die Verunsicherung groß, als die anderen Wanderer die Ministerpräsidentengattin erkannten. „Dann habe ich gesagt: ‚Die erste Flasche Wein zahl ich.‘“ Sie legt beide Hände aufs Herz, sagt mit diesem offenen Blick: „Ich meine, ich gebe den Leuten das Gefühl, dass wir normal miteinander schwätzen können.“ Das ist ihre Stärke, sie steht ihrem Mann beim Smalltalk bei. „Ach Gerlinde, wenn ich dich nicht hätte“, sagt Winfried Kretschmann dann, wenn sie ihm das rettende Sektglas reicht, damit er den Gästen zuprosten und eine abrupt endende Begrüßungsrede abrunden kann.

Am wenigsten geändert hat sich noch im heimischen Laiz. Die Leute kommen einfach so hereingeschneit und bringen ihr die Biografie über ihren Mann, damit der sie signiert, wenn er mal wieder da ist. Sie ist beim Albverein aktiv, am Vortag war Wanderplanaufstellung, und auch sie bietet nach wie vor zwei Wandertouren an. Nächstes Jahr geht es unter ihrer Führung zwei Tage nach Stuttgart. „Die Leute kennen Stuttgart höchstens vom Weihnachtsmarkt.“ Gerlinde Kretschmann geht mit ihnen auf den Killesberg, nach Untertürkheim, durch die Weinberge und zur Grabkapelle der Württemberger, übernachtet wird gemeinsam im Jugendgästehaus. Zu Hause ist sie ganz die Gerlinde von nebenan. Da sitzt sie einfach mal in der Wohnstube, die früher Großmutters Gaststube war, und strickt: dieser Tage eine Jacke, tannengrün mit Zopfmuster.