Am Tag nach dem Absturz der Germanwings-Maschine herrscht am Unglücksort in Südfrankreich Fassungslosigkeit und Trauer. Eindrücke aus einer rauen Gegend, in der sich die Bergungsarbeiten schwierig gestalten.

Seyne-les-Alpes - Am Tag nach der Katastrophe steht Serge Leydet in Seyne in seinem Laden und lacht. Nicht, dass dem 59-Jährigen danach zumute wäre. Aber es sei das Beste, was er jetzt tun könne, findet her. Der Mann hinter der Ladentheke ist kein guter Schauspieler. Seine Körpersprache verrät, wie es wirklich um ihn steht. Die weit aufgerissenen Augen, die vor dem Bauch trotzig verschränkten Arme, die in Falten gelegte Stirn, sie künden von Traurigkeit. Nach ein paar Augenblicken erlischt das Lachen auch schon. „So viel Tod und Verderben, hier gleich nebenan, ich hätte meinen Laden heute am liebsten dichtgemacht“, sagt er. Keine 24 Stunden ist es her, dass ein paar Kilometer weiter der Airbus zerschellt ist, der in Düsseldorf ankommen sollte, an Bord 144 Passagiere und sechs Besatzungsmitglieder.

 

Leydet tritt vor die Ladentür, macht eine Handbewegung Richtung Südosten, zeigt auf einen von schroffen Felsmassiven gekrönten Berg. Vor einem Wolkenfetzen zeichnen sich dort oben im Gegenlicht die Konturen eines Hubschraubers ab. „Das ist der Grand Puy, dahinter liegen sie, die Trümmer, die Leichen“, sagt Leydet. Warum er zunächst gelacht hat? Das Leben sei hart hier in Seyne, erzählt er. Es sei mehr ein Überleben als ein Leben. Wenn die wenigen Touristen, die sich in das 1439-Seelen-Nest verirrten, einen Ladenbesitzer mit Leichenbittermiene sähen, würden sie nichts kaufen, sondern Reißaus nehmen.

Ein Gutteil der Kollegen Leydets hat an diesem Mittwoch dichtgemacht. „Wegen eines außerordentlichen Ereignisses geschlossen“, steht an einer Glastür zu lesen. Andere Geschäftseigentümer haben auf Erklärungen verzichtet. Das Rathaus ist ebenfalls geschlossen. Aus der rußgeschwärzten Fassade ragt ein Fahnenmast. Von der Trikolore, die dort zu hängen hat, ist nicht mehr viel übrig: ein ausgeblichener Stofffetzen, zusammengehalten von schwarzem Trauerflor. Die Fenster im Erdgeschoss erinnern mehr an Schießscharten als an Lichtschächte. Schräg gegenüber in der Kirche Notre-Dame-de-Nazaret stehen die Tore dagegen weit offen. Gleich hinter dem Eingang liegt ein Kondolenzbuch aus. Die deutsche Botschafterin, Susanne Wasum-Rainer,  hat sich eingetragen: „En profonde tristesse, in tiefer Trauer.“

„No Way“, sagt einer der Uniformierten, der Angehörige abschottet

Unweit der Turnhalle des Dorfes, die Freunden und Angehörigen fortan ein Ort der Andacht und der Trauer sein soll, drängen sich Kamerateams. Gendarmen verstellen den Weg. „No way“, sagt einer der Uniformierten auf Englisch. Die Trauernden sollten hier unbehelligt vom Rest der Welt einen Ort der Andacht und Ruhe finden. Die ersten Angehörigen der Opfer sind mittags in Digne-les-Bains angekommen, etwa 30 Kilometer Luftlinie von der Absturzstelle entfernt. Fotografen ziehen sich hinter eine Scheune zurück, packen armlange Teleobjektive aus, richten sie auf das leuchtend rote Dach der Turnhalle.

Ein paar Hundert Meter weiter dröhnen die Rotoren eines Hubschraubers der Luftwaffe. Frankreichs Staatschef François Hollande und Bundeskanzlerin Angela Merkel sind gekommen, um ihre Trauer zu bekunden und den Bergungstrupps Mut zuzusprechen. Der Helikopter geht auf der noch strohgelb-winterlichen Wiese nieder, wo gewöhnlich Segelflugzeuge landen. Die Lippen zusammengepresst, die Hände gefaltet, schreitet Merkel an der Seite Hollandes über das Gras, begrüßt den spanischen Kollegen Mariano Rajoy, wendet sich denjenigen zu, die hier seit Dienstagnachmittag dem Tod ins Auge schauen: Ärzte, Gebirgsjäger, Gendarmen. Die Helfer stehen Spalier, nehmen   schweigend Dank und Händedruck des Trios entgegen.

Priorität für die Polizisten und Ermittler vor Ort hat neben der Sicherung der Absturzstelle erst einmal, den zweiten Flugschreiber des Airbus zu finden – der beschädigte Stimmenrekorder war bereits am Dienstag entdeckt worden. Auch die Überreste der 150 Opfer sollen erst nach dem Fund der zweiten Blackbox geborgen werden. Am Dienstagabend waren zusätzlich rund 50 Spezialkräfte zu Fuß von Seyne gestartet, um zur Unglücksstelle vorzudringen. Von der Siedlung Vernet aus sei das selbst für geübte Bergwanderer ein Weg von vier Stunden, heißt es hier.

Die Helfer werden hier noch lange auszuharren haben. Ihre Arbeitsbedingungen sind miserabel. Oben an den Steilhängen hinter dem Col de Mariaud findet nicht einmal ein Kleinhubschrauber Platz zum Landen. Bis zum Abschluss der Bergungsarbeiten dürften Wochen vergehen, sagt ein Gendarm. Was sie auszuhalten haben, ist unschwer auszumalen. Christophe Castaner, sozialistischer Abgeordneter des Départements Alpes-de-Haute-Provence, hat in einem der mittlerweile 15 eingesetzten Hubschrauber die Absturzstelle aufgesucht. Kaum wieder am Boden, hat er Bericht erstattet: „Ich hatte einen Haufen Wrackteile erwartet und drum herum Opfer, ich habe ein gigantisches, vier Hektar großes Trümmerfeld vorgefunden, übersät mit Leichen.“ Drei chinesische Journalisten lassen sich durch die Schilderung nicht abschrecken. Sie beschließen, sich am Boden zum Unglücksort durchzuschlagen. Sie fragen nach Bergführern, Schneestiefeln, Winterjackenverleih, ernten aber nur Schulterzucken und   mitleidiges Lächeln. So etwas gibt es nicht in Seyne.

Jacqueline stellt vier Betten bereit – mehr kann sie nicht tun

Die Winter sind lang hier oben auf mehr als 1200 Meter Höhe. Laubwälder erinnern an Ansammlungen ins Erdreich gesteckter Reisigbesen. Soweit es überhaupt Erdreich gibt. Oft ist da nur der nackte Fels, vielfach überspannt mit Stahlnetzen, die fallende Felsbrocken aufhalten sollen. „Ein bisschen Landwirtschaft, ein bisschen Tourismus, mehr haben wir hier nicht“, sagt der Ladenbesitzer Leydet. Seine beiden Kinder haben in Seyne kein Auskommen gefunden, arbeiten in Marseille und Poitiers. In dem rauen Klima hat sich freilich etwas herausgebildet, das in freundlicheren Gefilden weniger gut gedeihen mag: Solidarität.

Jacqueline ist anzusehen, dass ihr das Leben nichts geschenkt hat. In einer zerzausten Teddyfelljacke   steht sie auf dem Dorfplatz, an den Füßen fleckige Stiefel, um den Hals einen verblichenen Baumwollschal. Als sie vom Absturz erfuhr, haben sie und ihr im Bürgermeisteramt beschäftigter Mann beschlossen, zusammenzurücken und Angehörigen der Opfer Quartier anzubieten. „Vier freie Betten habe ich im Rathaus gemeldet“, erzählt Jacqueline. „Fast alle im Dorf versuchen wir, den Hinterbliebenen irgendetwas Gutes zu tun.“ Im Rathaus stehe das Telefon nicht mehr still. „Was sollen wir auch sonst tun?“, fragt die 55-Jährige.

Sie zeigt auf die Tür des Touristenbüros. An der Tür hängt ein Schild. „Der Karneval vom 4. April fällt aus“, steht darauf. Man könne nicht einfach weiterleben wie vor dem 24. März, sagt Jacqueline. Das Beste, um sich dem Leid zu stellen, sei doch, es zu lindern. Sonia geht einen ganz anderen Weg. Sie klammert den Crash, wie sie den Absturz nennt, konsequent aus, ignoriert ihn. Aber Sonia ist auch Lehrerin. „Den Kindern zuliebe tu ich so, als sei nichts passiert“, erzählt die junge Frau mit dem hennaroten Haar. Im Lehrerkollegium habe man sich entschieden, das Thema nicht anzusprechen. Was passiert sei, könne ein Kind nicht verarbeiten, sagt sie. Nach einer Weile fügt sie hinzu: „Selbst wir Erwachsenen können das doch nicht, oder?“