Tom Mueller setzt sich seine Brille, ein dickes Gestell aus schwarzem Hornimitat, auf die Nase. „You know“, sagt er, nimmt ein abgegriffenes Taschenbuch aus einem Regal und wählt aus einem Glas Filzstifte einen schwarzen Marker aus. „Für mich ist das hier ein Hobby. It’s interesting.“ Mueller malt mit ruhigen Strichen den Buchrücken nach, schwarz über die schwarze Fläche. Die feinen weißen Linien auf dem Einband, Spuren zigfachen Lesens und Knautschens, schwinden nach und nach. Mit einem orangefarbenen Filzstift widmet sich Mueller dann dem Titel, bis das in ein mattes Gelb verblasste „Alone“ dem künftigen Leser nur so entgegenknallt. „You see“, sagt er nach der Politur mit einem Taschentuch, „jetzt sieht es fast aus wie neu.“ Wieder ein Buch repariert, eine Seele gerettet.

 

Die Tür geht auf. Chrystal Yu, 35, bringt Mueller Pralinen und eine gefüllte Teigrolle als Neujahrsgruß mit. Die Chinesin lebt seit acht Monaten in Sonnenberg. Im Sommer hat sie Tom Mueller geholfen, den Laden aufzuräumen. „So geht das alles nicht“, schildert Mueller den Satz, der zum Beginn ihrer Bekanntschaft wurde. Die Krimis haben sie zusammen geordnet, Schildchen helfen Kunden wie Jennifer Vollmer nun bei der Autorensuche. Die 73-Jährige aus Filderstadt ist Engländerin. Warum Bücher über Amazon bestellen, wenn es doch hier so viel besser ist? „Bei dem Preis nehme ich auch mal ein Buch mit, das ich sich sonst nie gekauft hätte.“

Der Experimentierwille seiner weiblichen Kundschaft lässt sich an dem Stapel mit den quietschbunten Heftchen neben der Kriegsliteratur beobachten. „My Gigolo“ und „Sensual Ambitions“ heißt die Ware in gelben und pinkfarbenen Einbänden, die man zuerst für Comics hält. „Sex Books“, sagt Mueller. Groschenhefte mit englischer und amerikanischer Pornoliteratur aus den 50ern und 60ern. „Junge Frauen finden das witzig.“ Mueller, sonst die Würde in Person, kichert selbst ein wenig, als er erzählt, wie er an den Stapel gekommen ist. Eine Frau habe sie ihm gebracht, ein Erbe ihres Vaters. Sie wusste nicht, was sie mit den Heftchen anfangen solle. „Ich nehme alles“, sagt Mueller trocken.

Wie lange noch? Mueller ist nicht gesund. Das Herz macht ihm Last, unter anderem. Bisher schaffte er es dennoch, samstags im Laden zu stehen. „Tom, was machen wir, wenn du mal alt bist?“, hat ihn neulich eine Stammkundin gefragt. „Dann setzte ich mich auf den warmen Ofen mit einer Blechbüchse in der Hand“, sagt er, und wieder blitzt die diebische Freude aus seinen Augen. „Ihr rechnet ja sowieso selbst aus, was ihr bezahlen müsst.“ Und wenn er mal nicht mehr sei, ändere das auch nicht viel. „Dann sitze ich eben ausgestopft auf dem Ofen, die Blechbüchse in der Hand.“