Englischsprachige Krimis, Science Fiction und Kriegsliteratur für einen Euro, die Kinderbücher gratis. Ein Besuch im Laden von Tom Mueller in Stuttgart-Sonnenberg.

Stuttgart - So sehen viele Buchhandlungen in Deutschland aus: ein großzügiges Entrée, auf einem Tisch zur Rechten die Bücher der Bestsellerliste, zur Linken die Literatur der Saison locker dekoriert: Diät-Ratgeber im Januar, vor den Schulferien Reiseführer. An der Kasse dann das, was keiner braucht, aber alle für drei oder vier Euro gerne noch mitnehmen: Büchlein mit Gedichten passend zur Jahreszeit, Sinnsprüche von Paulo Coelho, Kunstpostkarten – Quengelware für Bildungsbürger.

 

Bei Tom in dem gesetzten Stuttgarter Vorort Sonnenberg gelten diese Gestaltungsmaximen nicht. „Books“ steht auf einem angerosteten Schild über der Ladentüre des weißen Häuschens gegenüber der Stadtbahn-Haltestelle. Die Fenster sind mit Pappe verhängt. „All books only 1 Euro“, steht in einem Fenster, die Preisangabe „2 DM“ ist provisorisch überpinselt. Immerhin, den Währungswechsel 2002 muss der Laden mitgemacht haben. Und an den Samstagen gibt es ein weiteres Indiz dafür, dass die Buchhandlung in Betrieb ist. Zwischen 10 und 15 Uhr, in der Öffnungszeit, stehen Klappstühle und ein Tisch an der Straße, bei gutem Wetter mit einer Bücherkiste obendrauf.

Wer dann die mit Thermofolie abgeklebte Tür aufschiebt, sitzt dem Ladeninhaber quasi gleich auf dem Schoß. „Which books are you looking for – nach welchen Büchern suchst du?“ schmettert Tom Mueller, 76, zur Begrüßung. Auf einem Plastikstühlchen thront er neben einem kleinen Heizkörper. Über seinem Bauch spannt ein Holzfällerhemd, das weiße Haar lang und ungebändigt wie sein Vollbart.

Anfang der 80er Jahre hat Muellers Rasierer eines Morgens seinen Geist

aufgegeben. Ob er sich etwa einen Bart stehen lassen wolle, fragte ihn sein Vorgesetzter bei den SSB, wo Mueller damals arbeitete, mit unverhohlenem Missfallen. „Dann lasse ich ihn doch erst recht wachsen, habe ich mir da gedacht“, sagt Mueller, diebische Freude blitzt aus seinen Augen.

Eine Kiste Agatha Christie

Zunächst ist es aber an Mueller, die Fragen zu stellen. „Warst du nicht schon mal hier?“, stellt er mehr fest, als dass er es fragt, und erhebt sich bedächtig von seinem Hocker. „Magst du Krimis? Ich habe eine Kiste voll mit Agatha Christies. Hier, schau nur rein. Kinderbücher sind gratis, denn sie müssen immer lesen können.“ Erstaunlich behände schiebt sich Mueller durch die engen Regalreihen. Alles scheint schier zu platzen vor englischsprachigen Krimis, Romanen, Sachbüchern und Comics, nur in wenigen Regalen gibt es Lücken. Wo kein Regal steht, stapeln sich Bananenkisten, voll mit Büchern teilweise bis auf Brusthöhe. Mueller schickt einen Seufzer zur niedrigen Ladendecke. Unschlüssig steht er vor den überquellenden Pappkartons, räumt ein Buch hierhin, packt ein anderes Buch dorthin.

„Ach, du räumst mal wieder aus?“ Es ist keine Frage, eher eine Feststellung, mit der einer der ersten Kunden an diesem nasskalten Vormittag in die Buchhandlung hineinweht. Robert Getgood, Australier, 47, trägt eine Plastiktüte mit ausgelesenen Büchern unter dem Arm. Im Schnitt alle zehn Wochen kommt er aus Herrenberg zu Tom’s Bookstore und besorgt sich Nachschub, im Sommer häufiger.

„Ich muss dringend aussortieren.“ Mueller klingt gram. Gut 20 000 Bücher, schätzt er, stehen in den Regalen seines Ladens. Weitere 20 000 Bücher, so fürchtet er, lagern unausgepackt in den Kisten. „Ich habe es vergangene Woche einfach nicht geschafft.“ Er wollte doch eine Ladung mit Büchern fertig machen, die dann ein Stuttgarter Verein zusammen mit Medikamenten und alten Fahrrädern nach Afrika schickt. Am Vortag sei er zwar im Laden gewesen, aber statt zu räumen, habe er mal wieder die ganze Zeit gelesen.

Romances und andere Frauenbücher

„Come on, Tom“ sagt Getgood. „Fang doch bei den Büchern an, die du nie verkaufst. Manche stehen hier, seit ich zum ersten Mal in deinem Laden war.“ Das war 1996. Getgood steht vor dem Regal mit der Kriegsliteratur und zieht nach kurzem Suchen ein Taschenbuch heraus. „Das hier zum Beispiel.“ Vom Einband starrt eine Frau unter dem englischsprachigen Titel „Patriots – Die Sage von tapferen Männern und heroischen Frauen“ mit Ingrimm auf einen Punkt in der Ferne. „Und weißt du, warum ich es mir gemerkt habe?“, fragt Getgood und wiegt das Buch grinsend in seiner Hand. „Weil es falsch eingeordnet ist.“ Sein richtiger Platz wäre eine Regalreihe weiter. Dort, wo die Buchrücken nicht mehr schlammbraun sind, sondern Altrosa und Fliederfarben. „Romances“ informiert ein Schild. Als sich einst eine Kundin beschwerte, dass Frauen nicht nur Schnulzen läsen, hat Mueller das Schild handschriftlich erweitert in „Romances – und andere Bücher, die für Frauen interessant sind.“

Getgood läuft wie ein Hund auf Fährtensuche die Regalreihen ab. „Wo versteckst du die neuen Bücher?“, ruft er. „Gib’s zu, du hast sie dir wieder alle unter den Nagel gerissen.“ Oft genug müsse man mit Tom um die besten Neuzugänge kämpfen, klagt er. „Come on, I’m not that bad“ – so schlimm sei er nun auch wieder nicht, wiegelt Mueller ab und faltet, eine versöhnliche Miene aufsetzend, die Hände über dem Bauch. „Natürlich lese auch ich gerne.“

Eine Untertreibung. Das Geschäftsziel von Tom Mueller aus Chicago, heute wohnhaft im Stuttgarter Westen, besteht allein darin, immer selbst genug Bücher zu haben. Bereits vor der Einschulung konnte er lesen. Auf dem Schulhof eröffnete er eine florierende Leihbibliothek mit den Büchern seines Vaters. Mit dem Verdienst daraus finanzierte er seinen eigenen Nachschub. In den 60er Jahren kam Mueller als Soldat nach Stuttgart, arbeitete als Hausmeister und Elektriker im Cannstatter Militärkrankenhaus. Was wenige Jahre dauern sollte, währt bis heute. Den Heuschnupfen, der ihn in Deutschland anders als in den USA nicht plagt, nennt er als Motiv sowie seine Reiselust. Und eine Frau, die in Remseck lebte, hat wohl auch Einfluss auf sein Bleiben genommen. Zu den Details schweigt Mueller eisern.

Eine Bäckerei wird zum Buchladen

Lieber erzählt er, dass er damals mehr als 15 D-Mark im Monat für Bücher ausgab. „That was a lot of money!“ Um günstiger an Nachschub zu kommen, begann er im Nebenerwerb, mit gebrauchten englischsprachigen Büchern zu handeln. Zuerst hatte er einen Stand auf dem Samstagsflohmarkt am Karlsplatz. Als Anfang der achtziger Jahre sein Ford Transit nicht mehr mitmachte, hat ihm der Zufall geholfen. In seiner Stammbäckerei kam er mit einer Frau ins Gespräch, die von einem leeren Lagerraum in Sonnenberg erzählte. Mueller war begeistert. Öffnete sein Geschäft zunächst auch unter der Woche, stellte eine Verkäuferin ein. Doch bald war klar, dass sich das nicht lohnt.

Ob es vielleicht auch an der Lage liegt? In Sonnenberg mag man schön wohnen, aber Bücher verkaufen? „Och“, sagt Tom, „vor einiger Zeit ist ein Anwohner gekommen und hat gesagt, dass es doch eigentlich komisch ist: In Sonnenberg hält sich kaum ein Geschäft – außer einem englischen Buchladen und einem afrikanischen Restaurant.“

„Was bekomme ich?“, fragt Müller. Getgood rechnet vor: 15 Bücher hat er zurückgebracht, acht nimmt er jetzt mit. „Also bekommst du von mir noch 50 Cent.“ – „Zwei für eins“, bestätigt Mueller, „that’s right, thank you, so long.“ Die Rechnung aufzustellen, das überlässt der Buchhändler seinen Kunden. „Wenn mich jemand wegen eines Euros betrügen will, dann hat er das Geld nötiger als ich.“

Sex Books aus den Sechzigern

Tom Mueller setzt sich seine Brille, ein dickes Gestell aus schwarzem Hornimitat, auf die Nase. „You know“, sagt er, nimmt ein abgegriffenes Taschenbuch aus einem Regal und wählt aus einem Glas Filzstifte einen schwarzen Marker aus. „Für mich ist das hier ein Hobby. It’s interesting.“ Mueller malt mit ruhigen Strichen den Buchrücken nach, schwarz über die schwarze Fläche. Die feinen weißen Linien auf dem Einband, Spuren zigfachen Lesens und Knautschens, schwinden nach und nach. Mit einem orangefarbenen Filzstift widmet sich Mueller dann dem Titel, bis das in ein mattes Gelb verblasste „Alone“ dem künftigen Leser nur so entgegenknallt. „You see“, sagt er nach der Politur mit einem Taschentuch, „jetzt sieht es fast aus wie neu.“ Wieder ein Buch repariert, eine Seele gerettet.

Die Tür geht auf. Chrystal Yu, 35, bringt Mueller Pralinen und eine gefüllte Teigrolle als Neujahrsgruß mit. Die Chinesin lebt seit acht Monaten in Sonnenberg. Im Sommer hat sie Tom Mueller geholfen, den Laden aufzuräumen. „So geht das alles nicht“, schildert Mueller den Satz, der zum Beginn ihrer Bekanntschaft wurde. Die Krimis haben sie zusammen geordnet, Schildchen helfen Kunden wie Jennifer Vollmer nun bei der Autorensuche. Die 73-Jährige aus Filderstadt ist Engländerin. Warum Bücher über Amazon bestellen, wenn es doch hier so viel besser ist? „Bei dem Preis nehme ich auch mal ein Buch mit, das ich sich sonst nie gekauft hätte.“

Der Experimentierwille seiner weiblichen Kundschaft lässt sich an dem Stapel mit den quietschbunten Heftchen neben der Kriegsliteratur beobachten. „My Gigolo“ und „Sensual Ambitions“ heißt die Ware in gelben und pinkfarbenen Einbänden, die man zuerst für Comics hält. „Sex Books“, sagt Mueller. Groschenhefte mit englischer und amerikanischer Pornoliteratur aus den 50ern und 60ern. „Junge Frauen finden das witzig.“ Mueller, sonst die Würde in Person, kichert selbst ein wenig, als er erzählt, wie er an den Stapel gekommen ist. Eine Frau habe sie ihm gebracht, ein Erbe ihres Vaters. Sie wusste nicht, was sie mit den Heftchen anfangen solle. „Ich nehme alles“, sagt Mueller trocken.

Wie lange noch? Mueller ist nicht gesund. Das Herz macht ihm Last, unter anderem. Bisher schaffte er es dennoch, samstags im Laden zu stehen. „Tom, was machen wir, wenn du mal alt bist?“, hat ihn neulich eine Stammkundin gefragt. „Dann setzte ich mich auf den warmen Ofen mit einer Blechbüchse in der Hand“, sagt er, und wieder blitzt die diebische Freude aus seinen Augen. „Ihr rechnet ja sowieso selbst aus, was ihr bezahlen müsst.“ Und wenn er mal nicht mehr sei, ändere das auch nicht viel. „Dann sitze ich eben ausgestopft auf dem Ofen, die Blechbüchse in der Hand.“