Vor hundert Jahren wurde zum ersten Mal im Krieg Giftgas eingesetzt. Die deutschen Truppen töteten beim belgischen Ypern tausend gegnerische Soldaten. Durchgeführt hat den Angriff der Chemiker und spätere Nobelpreisträger Fritz Haber.

Stuttgart/Berlin - In drei Jahren, oder in vier, wird die deutsche und internationale Chemieindustrie einen ihrer ganz Großen zu feiern haben. Denn vor dann hundert Jahren, im Jahre 1919, hat Fritz Haber, damals Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physikalische Chemie und Elektrochemie in Berlin, rückwirkend den Chemie-Nobelpreis des Jahres 1918 für ein bis heute weltweit wichtiges chemisches Verfahren bekommen, die sogenannte Ammoniaksynthese im Haber-Bosch-Verfahren. Aus dem Stickstoff der Luft wird Ammoniak, der zur Herstellung von Kunstdünger nötig ist.

 

In diesen Tagen jedoch erinnert die Gesellschaft Deutscher Chemiker (GDCH) an ein ganz anderes Jubiläum, eine der finstersten Stunden der Chemie. Und auch da steht Fritz Haber im Mittelpunkt. Am 22. April 1915 setzte das deutsche Militär erstmals Giftgas gegen alliierte Truppen ein. 160 Tonnen Chlorgas wurden bei Ypern in Belgien aus 5700 Stahlflaschen in die gegnerischen Reihen geblasen. Das Gas, schwerer als Luft, sank in die Schützengräben. 1000 Menschen starben, mehr als 5000 wurden verletzt. Vorbereitet und durchgeführt hat den Angriff Fritz Haber.

„Humanere“ Kriegsführung?

Haber hat diesen Angriff in voller Überzeugung geleitet. Bei Kriegsausbruch 1914 hatte der 1868 Geborene sich freiwillig zum Militär gemeldet. Sein Kredo sei gewesen: „Im Frieden für die Menschheit, im Krieg für das Vaterland“, heißt es in einem Artikel, der vor zehn Jahren in der Zeitschrift „Angewandte Chemie“ erschien. Der Autor Bretislav Friedrich zitiert ihn mit den Worten, chemische Kriegführung sei „humaner“, weil sie den Krieg verkürzen werde.

Die genannten Zahlen der Toten und Verwundeten stammen von Friedrich; die Bundeszentrale für politische Bildung nennt „schätzungsweise 1200 Tote und 3000 Verwundete“ dieses ersten Giftgasangriffs. Insgesamt starben laut Bundeszentrale im Ersten Weltkrieg durch den Einsatz von 120 000 Tonnen 38 verschiedener Kampfstoffe ungefähr 100 000 Menschen, und 1,2 Millionen wurden verletzt.

Denn die Alliierten zogen nach. Es wurden weitere Kampfgifte entwickelt und eingesetzt. Aus Habers Institut kamen Phosgen und das Kontaktgift Lost (Senfgas) sowie das „Buntschießen“ mit Cocktails verschiedener Gifte und das „Maskenbrechen“ durch irritierende Stoffe, die zum Abnehmen der im Verlauf des Kriegs entwickelten Gasmasken verleiteten.

Eine Tagung über den Giftgaskrieg

Fritz Haber, der „Schlächter von Ypern“, der „Vater des Gaskriegs“ stand nach dem Krieg für kurze Zeit auf der Kriegsverbrecherliste der Alliierten. Dennoch verlieh das Nobelkomitee ihm den Preis, der, so wollte es der Stifter Alfred Nobel, Menschen ehren soll, die „der Menschheit den größten Dienst erwiesen“ haben.

Wie passt das zusammen? Diese Frage beschäftigt die Chemie bis heute. Bretislav Friedrich ist Professor an einem Chemieinstitut, das Habers Namen trägt: Fritz-Haber-Institut der Max-Planck-Gesellschaft in Berlin. Dieses Institut ist sich seiner Geschichte und seines Namens wohl bewusst, wie nicht nur der Artikel von Friedrich zeigt. Am 21. April und dem Gedenktag des Gasangriffs, dem 22. April, veranstaltet das Institut zusammen mit dem Max-Planck-Institut (MPI) für Wissenschaftsgeschichte ein Symposium zu 100 Jahren Giftgaskrieg (siehe 2. Seite). Das internationale Vortragsprogramm eröffnet Margit Szöllösi-Janze von der Uni München, die eine Biografie Habers geschrieben hat. Am Ende der Tagung steht eine Gedenkveranstaltung, auf der auch der Botschafter Belgiens sprechen wird.

Der Wissenschaftshistoriker Florian Schmaltz hat von Seiten des MPI für Wissenschaftsgeschichte die Tagung mit organisiert. Die Tagung werde, so Schmaltz, die Geschichte des Gaskriegs und Habers Rolle darin „in kritischer Absicht als europäisches und internationales Thema diskutieren“. Auf den Namen des Chemieinstituts angesprochen, räumt er ein: „Der Name ist ambivalent.“ Forderungen, ihn zu ändern, gebe es immer wieder. Doch „die Umbenennung in Fritz-Haber-Institut durch die Max-Planck-Gesellschaft erfolgte, neben der Würdigung seines wissenschaftlichen Lebenswerkes, explizit auch als Schritt zur öffentlichen Rehabilitierung als NS-Verfolgter, der 1933 aus seinen Ämtern vertrieben wurde und vor seiner Emigration fast seines gesamten Vermögens durch die Nazis beraubt wurde“, sagt Schmaltz und erinnert daran, dass Haber, der aus einer jüdischen Familie stammte, 1933 ein sehr seltenes Maß an Zivilcourage gezeigt habe. „Es gab kein Kaiser-Wilhelm-Institut, an dem so viele jüdische Mitarbeiter vertrieben worden sind.“ Haber habe „sich schützend vor sie gestellt“. Er habe als einer der ganz wenigen „den Schritt unternommen, beim Reichserziehungsministerium zu protestieren“. Haber emigrierte schließlich und starb 1934 während einer Reise in Basel.

Schmaltz sagt: „Eine Umbenennung kann nicht die richtige Antwort sein, um mit Habers fragwürdiger Rolle als Chemiker im Ersten Weltkrieg umzugehen. Stattdessen ist es besser, sich der Frage der Verantwortung der Wissenschaft zu stellen und ein selbstreflexives Moment beizubehalten. So könnte die Beibehaltung des Namens als Chance und Verpflichtung wahrgenommen werden, die immer wieder notwendige kritische historische Auseinandersetzung über die Beziehung von Krieg und Wissenschaft und die auch heute aktuelle Frage der Verantwortlichkeit von Wissenschaftlern für die Konsequenzen ihrer Forschung lebendig zu halten.“

Tod einer Pazifistin

Die Erinnerung an Haber und den Gaskrieg wäre unvollständig ohne einen Blick auf seine erste Frau Clara, geborene Immerwahr. Sie war die erste Chemikerin in Deutschland mit einem Doktorgrad, Frauenrechtlerin und Pazifistin. Als Haber den Sieg von Ypern und seine Beförderung zum Hauptmann feierte, erschoss sie sich am nächsten Tag mit seiner Dienstpistole. Ihr Abschiedsbrief ist verschollen. Doch fanden Forscherinnen wie Szöllösi-Janze in ihrer Korrespondenz Hinweise, dass sie zumindest zeitweise depressiv und deswegen in Behandlung gewesen war. Hinzu kommt, dass sie auf der Feier ihren Mann mit Charlotte Nathan gesehen haben soll. Nathan wurde Habers zweite Frau.

Tagung „100 Jahre Gaskrieg“

Gedenken
Etwa 100 Teilnehmer werden für den 21. und 22. April zur Tagung in Berlin erwartet. Auf der öffentlichen Gedenkveranstaltung im Harnack-Haus, der Tagungsstätte der Max-Planck-Gesellschaft, am 22. April um 18 Uhr wird Ghislain D’hoop, der Botschafter Belgiens in Deutschland, an den Beginn des Gaskriegs auf dem Boden seines Landes erinnern. Nach Beiträgen der Veranstalter und einer Schweigeminute spricht Paul Walker vom Grünen Kreuz in Washington über die „Schaffung einer Welt ohne chemische Waffen“.

Programm
In 19 Fachvorträgen geht es unter anderem um das Zusammenwirken von Militär und Industrie im Gaskrieg, um die völkerrechtliche Beurteilung des Gaskriegs, das Leiden der Soldaten sowie um Beispiele weiterer, späterer Einsätze von Giftgas durch Briten und Japaner sowie neuere Berichte über Einsätze gegen Kurden und in Syrien.