Met saufende Barbaren, die mordeten und plünderten: Tübinger Wissenschaftler erklären, warum es die Wikinger nicht bis in den Südwesten schafften und räumen auf mit der Legende von den blutrünstigen Horden. Denn die Nordmänner waren vor allem eines: Händler.
Tübingen - Sie waren die Terror-Milizen des Mittelalters. Mehr als 300 Jahre versetzten sie ganz Europa in Angst und Schrecken: die Wikinger. Wie aus dem Nichts tauchten sie mit ihren wendigen Langschiffen an Küsten und Ufern auf. Brannten Dörfer nieder, plünderten Klöster, versklavten die Bewohner und raubten, was sie tragen konnten.
„In unserer westlichen Zivilisation sind die Wikinger nahezu allgegenwärtig“, schreibt der Tübinger Mittelalterarchäologe Matthias Toplak in dem jetzt erschienenen Buch „Die Wikinger – Entdecker und Eroberer“ (480 Seiten, Propyläen Verlag). Fast jeder habe eine „mehr oder weniger konkrete Vorstellung davon, wer die Wikinger waren“.
Nach dem Tod seines Doktorvaters Jörn Staecker im Jahr 2018 – Staecker war Professor für Mittealterarchäologie an der Universität Tübingen – hat Toplak als Herausgeber und Autor renommierte Wissenschaftler dafür gewinnen können, ihre Arbeit vorzustellen. So ist ein Werk entstanden, das die großen Themen der Wikinger-Ära umfasst und den aktuellen Stand der Forschung widerspiegelt.
Die wilden Nordmänner umgibt eine geradezu mythische Faszination. Kein Volk ist aber medial so präsent wie die Wikinger. Die meisten Erzählungen, die cineastisch virtuos, tricktechnisch perfekt und mit viel Kunstblut dargeboten werden, sind übertrieben, aufgeblasen und historisch falsch. Das machen die fast zwei Dutzend Autoren sehr deutlich.
Sechste Staffel von „Vikings“ startet am 4. Dezember
Beispiel „Vikings“: Am 4. Dezember geht die sechste und finale Staffel der kanadisch-irischen Erfolgsserie in den USA beim History Channel an den Start. Anfang des nächsten Jahres wird sie dann auch in Deutschland ausgestrahlt. „Vikings“ markiert den Höhepunkt des Nordmänner-Hypes.
Das blutgetränkte Schicksal des legendären Wikinger-Anführers Ragnar Lodbrok, der wilden und schönen Schildmaid Lagertha und der Brüder Björn und Ivar ist ohne Frage fesselndes Popcorn-Kino.
Waren so die echten Wikinger? Met saufende Berserker, die plünderten wie nur die Hunnen vor ihnen? Furchterregende Krieger mit Hörnern auf den Helmen und dicken Fellen behangen?
„Nein, das ist absoluter Unfug, der erst durch die Nationalromantik des 19. Jahrhundert entstand und dann von Hollywood aufgegriffen wurde“, erklärt Toplak. „In all diesen Filmen wird der edle Wilde mit nacktem Oberkörper, seltsamen Frisuren und schwarzem Leder thematisiert. Das ist sexy. Aber es stimmt überhaupt nicht mit dem überein, was wir archäologisch fassen können.“
Die Rolle der Frau bei den Wikingern
„Glauben Sie nicht alles, was das Fernsehen und Kino zeigt. Generell war der Einfluss der Frauen bei den Wikingern höher als in anderen zeitgenössischen Gesellschaften“, erklärt Matthias Toplak. Das betreffe aber nur die Oberschicht, die freien Frauen. Die Mägde und Sklavinnen seien rechtlos gewesen. Prinzipiell hatten Frauen das Recht sich scheiden zu lassen, was für den Mann ein finanzielles Desaster war. Er musste die Hälfte seines Besitzes und die Mitgift abtreten.
Und wie sah es mit dem politischen Einfluss aus? „Das Reden bei politischen Veranstaltungen war ihnen verboten“, sagt der Tübinger Archäologe. „Ich gehe aber davon aus, dass sie über ihre Männer, Brüder oder Söhne massiven Einfluss ausüben konnten. Reichen und mächtigen Frauen wird man in Einzelfällen aber wohl durchaus erlaubt haben, bei offiziellen Veranstaltungen zu reden.“
Met saufende Berserker? Die Wikinger genossen mit Vorliebe Wein
Beispiel Met: Die berauschende Alkohol-Plörre aus Honig und Wasser darf in keinem Wikinger-Streifen fehlen. Ob in „Der letzte Wikinger“ (1961), „Der 13te Krieger“ (1999) oder in „Vikings“ – es wird gebechert bis zum Umfallen.
Fakt ist: Es sei damals nicht nur für Wikinger schwer gewesen, an Alkohol zu gelangen, so Toplak. „Die Wikinger hatten gar nicht den Alkoholvorrat, um sich jeden Tag zu betrinken.“ Die Nordmänner importierten mit Vorliebe Wein aus dem Frankenreich. „Das war ein absolutes Luxusgut.“
So sollte der dänische Häuptling Godefrid 885 von Kaiser Karl III. mit einem Lehen im Frankenreich belohnt werden, berichtet Toplak im Interview. Doch Godefrid beschwerte sich nach kurzer Zeit beim Kaiser darüber, dass in seinem neuen Lehen kein Weinanbau möglich sei, er hätte gerne ein neues. „Es ging ihm also überhaupt nicht um eine militärisch strategische Position oder Anschluss an Handelsrouten, sondern primär um direkten Zugriff auf den Wein.“
Zügellose Gewalttäter und erfolgreiche Händler
Diese historische Anekdote zeigt, was die gefürchteten Krieger aus dem heutigen Skandinavien vor allem waren: Händler. „Es stimmt“, sagt der Tübinger Archäologe, „die Wikinger waren zügellose Gewalttäter. Sie waren stellenweise brachiale Barbaren, die mit der Axt auf alles einschlugen, was ihnen in den Weg kam. Das ist aber nur ein Teil der historischen Realität. Gleichzeitig hatten die Wikinger Kontakte mit sehr vielen anderen Kulturen.“
Mit ihren Drachenschiffen bereisten die Wikinger alle damals bekannten und unbekannten Meere. Sie dienten als Söldner am Hof des oströmischen Kaisers und bildeten die sogenannte Warägergarde. Sie errichteten auf Sizilien und in der Normandie Herrschaften, eroberten lange vor der Schlacht von Hastings zwischen Normannen und Angelsachsen im Jahr 1066 große Teile Englands.
Sie besiedelten Island und Grönland. Ende des zehnten Jahrhunderts betrat Leif Eriksson als erster Europäer amerikanischen Boden – 500 Jahre vor Kolumbus. Bis nach Russland und in die arabischen Kalifate reichten die Handelswege der Wikinger.
Nur ein Flecken blieb während des Mittelalters eine notorisch Wikinger-freie Zone – das heutige Baden-Württemberg. Das hatte vor allem logistische Gründe, erläutert Toplak. Die Wikinger seien über die großen Flüsse wie Themse, Rhein, Elbe und Seine weit ins Landesinnere vorgedrungen, was mit enormen Gefahren verbunden gewesen sei.
Kamen die Nordmänner bis in den Südwesten?
„Die Flüsse konnten kontrolliert werden“, erläutert Toplak. „Die Wikinger konnten nicht an den Ufern lagern, weil sie angegriffen werden konnten. Das ist einer der Gründe, warum wir keine direkte Präsenz von Wikingern im Südwesten haben.“
Erst im Nachhinein kam es über das Erbe der Nordmänner zu einer Verbindung der Kulturen. Baden-Württemberg war, so Toplak, über die Staufer-Dynastie eng mit Sizilien verbunden, wo es ein normannisches Reich skandinavischstämmiger Herrscher gab. Das war allerdings über 100 Jahre nach der großen Zeit der Wikinger, die gegen Ende des elften Jahrhunderts vorbei war.
In England hingegen lassen sich dem Tübinger Forscher zufolge durch die Eroberung weiter Regionen durch vornehmlich dänische Wikinger (das sogenannte Danelag) bereits vor der Invasion durch Normannen nordische Einflüsse fassen.
Doch auch wenn die Wikinger nicht weiter als Köln, Trier und Mainz segelten, reichte ihr kaufmännischer Einfluss bis an den Bodensee. Allerdings war der merkantile Einfluss mehr indirekt – etwa über den Weinhandel. Ob dieser Handel tatsächlich auch die großen Klöster in Süddeutschland – etwa auf der Insel Reichenau, wo der Wein angebaut wurde – erreichte, sei nicht sicher belegt, erklärt der Tübinger Wissenschaftler.
Weinfässer vom Bodensee für durstige Wikinger
Archäologische Funde in der wichtigen Wikingersiedlung Haithabu an der Schlei-Mündung in Schleswig-Holstein zeugen allerdings von Handelsbeziehungen in den Südwesten. In dem 770 gegründeten und 1066 endgültig zerstörten Handelszentrum wurden große Fässer aus Tannenholz gefunden, die wahrscheinlich für den Weintransport genutzt worden sein, so Toplak. „Aufgrund der Holzanalysen kann man diese Fässer Süddeutschland zuweisen. Möglicherweise wurden sie in den großen Klöstern gefertigt und von dort nach Norden verhandelt.“
Ohne die süddeutsche Handwerkskunst hätten die trinkfreudigen Nordmänner womöglich auf dem Trockenen gesessen. Eine schlimme Vorstellung – für Ragnar Lodbrok und Co.