Reportage: Robin Szuttor (szu)

Eine Flugstunde in Sensburg ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Als ich in der Luft war, setzten Orkanböen ein. Nach einem Kampf gegen die Naturgewalten setzte ich butterweich auf. Es war herrlich, in einem Staat zu leben, der seiner Jugend so viel bieten konnte. Damals war ich sehr stolz, ein Deutscher zu sein.

 

Im Februar 1943 ergab sich der Rest einer halb verhungerten und ausgemergelten Armee in Stalingrad. Zu der Zeit wurde bei uns ein kleines hölzernes Ruderboot an Land getrieben. Ich organisierte den Propeller eines Segelflughilfsmotors, eine Antriebswelle fand sich auf dem Schrottplatz der Schmiede, ein alter Fahrradrahmen mit Tretlager diente dem Pedalantrieb. Ich und meine Freunde bekamen das Boot tatsächlich wieder flott. Rechtzeitig zur Badesaison kam es zum Stapellauf. Die Alten sahen uns zu und schüttelten nur die Köpfe: „Wat dee ook allet moake, de Lorbasse.“

1943 ging zu Ende. Die Order kam, dass ich mich als Luftwaffenhelfer bei der Schweren Flak in Königsberg einzufinden hätte. Ich wurde dem Geschütz Cäsar zugeteilt. Der technische Teil der Ausbildung interessierte mich besonders. Das Kanonenrohr mit den 32 Zügen und 32 Feldern, der lange Zylinder mit einem halb automatischen Schubkurbel-Fallkeilverschluss.

20. Juli 1944. Der Anschlag auf Hitler erregte die Gemüter. Bei der Wehrmacht durfte jetzt nur noch mit „Deutschem Gruß“ gegrüßt werden. Bei den Soldaten war ein Widerstand zu spüren, sie grüßten fast nicht mehr, und der Hauptmann schaute einfach weg, wie ich meinte.

Es folgte ein weiterer Lehrgang zur fliegerischen Endausbildung. Im masurischen Allenstein merkte man, die Front konnte nicht mehr weit sein. Bei den ersten Flügen hatte ich Flüchtlingsfahrzeuge auf den von Osten kommenden Straßen sehen können. Anfangs einzelne Wagen, bald endlose Trecks. Aus der Vogelperspektive hatten sie fast etwas Romantisches. Ich war 16 und fertig ausgebildet. Mein Schulleiter meinte, dass ich wahrscheinlich der jüngste Pilot im Reich sei. Ich wurde in die Kunstflugschule nach Elbing einberufen. Am Hauptbahnhof Königsberg kontrollierte die Militärpolizei meine Papiere: „Fahr nach Hause Junge, mit dem Fliegen ist’s vorbei.“ Also drückte ich wieder die Schulbank.

Als wir unser neues Eigenheim bezogen, musste auch eine Hakenkreuzfahne her, denn jeder musste sein Haus zu bestimmten Anlässen beflaggen. Meine Mutter nähte die Fahne selber. Das Hakenkreuz hatte sie aus einer alten schwarzen Schürze gefertigt. Als ich protestierte, dass im Stoff lauter kleine weiße Punkte seien, meinte sie nur, dass man das aus der Entfernung gar nicht sehen könne. „Überhaupt, steck du deine Nase lieber in die Schulbücher.“ Onkel Walter, der abends gern auf einen Sprung vorbei kam, merkte außerdem, dass das Hakenkreuz spiegelverkehrt stand: „Damit ist nicht zu spaßen.“ Die Flagge blieb so. Erst später verstand ich, dass Mutter damit auf ihre Art die Nazis verhöhnte.

Anfang 1939 wurde ein Bahngleis in den Küstenbereich gelegt, und 220-Millimeter-Langrohrgeschütze wurden in Stellung gebracht. Ich verbrachte jede freie Minute bei den Soldaten. Dann, am 1. September 1939, der Angriff auf Polen: Der Beschuss der Westerplatte durch die „Schleswig-Holstein“ und die Bomben der Stukas sandten ihre Schallwellen über die Danziger Bucht. In Palmnicken gab es Aufmärsche, die Bergwerkskapelle spielte „Siehst du im Osten das Morgenrot?" Ich hisste Mutters Fahne.

Eine Kindheit an der Bernsteinküste

Anfang 1941 trat ich der Flieger-HJ bei. Unser Palmnicken war nicht nur wegen seiner einzigartigen Bernsteinschätze bekannt, es gab auch einen breiten weißen Badestrand, und die Steilküste bot den Segelfliegern einmalige Bedingungen. Ich war mit großer Begeisterung dabei.

Im Februar begann das Unternehmen „Barbarossa“, der Überfall auf die Sowjetunion. Die Ostprovinzen wurden zu einem einzigen Heerlager. Endlose Güterzüge mit Waffen, Fahrzeugen, Pferden und Truppen, die den Frankreichfeldzug mitgemacht hatten, rollten in den Bahnhof. Für uns Kinder, aber auch für die Veteranen des Ersten Weltkriegs, gab es viel zu sehen.

Im Juni 1941 machte Hitler ernst. Blitzkrieg. Kesselschlachten, bei denen große russische Einheiten in Gefangenschaft gerieten. „Es läuft alles nach Plan“, hieß es bei uns. Man sang „Volk ans Gewehr, vorwärts nach Osten, du stürmend Heer.“

Im Winter war die Ostsee bis zum Horizont zugefroren. Herrlich für uns Kinder. Von den im Samland einquartierten Soldaten erfuhr man aus Feldpostbriefen von verheerenden Verlusten. Erste Berichte von SS-Gräueltaten drangen durch. Wir sangen „Von Finnland bis zum Schwarzen Meer, Führer befiehl, wir folgen dir.“

Der Nachbar Perschel, der beim Küstenschutz war, nahm mich manchmal zum Unterstand in der Steilwand mit. Hier bildete der Strand nur einen schmalen Gürtel, und bei schweren Stürmen war der Küstensockel ganz den Brechern der See preisgegeben. Der Unterstand befand sich versteckt in Sanddorngestrüpp. Ein Kanonenofen, ein Tisch und eine Bank boten ein wenig Behaglichkeit. Wenn ich Lust hätte, meinte der alte Perschel, könnte ich ruhig ab und zu den „Seeadlerhorst“ aufsuchen. Von dem Angebot machte ich oft Gebrauch. Nie verriet ich meinen Freunden von seiner Existenz. Wenn mein Blick über die weite See schweifte, stellte ich mir vor, wie einst die Normannen an dem Gestade landeten.

Im Juli 1942 durfte ich zum Segelfluglehrgang nach Sensburg, ein kleines masurisches Städtchen. Als der Zug in Königsberg einlief, konnte ich die Fronturlauber und Verwundeten beobachten. Es herrschte Hochbetrieb. Voller Ehrfurcht saß ich dann im Abteil mit Frontkämpfern. Sie trugen Auszeichnungen wie das Infanterie-Sturmabzeichen und die Nahkampfspange. Sie erkundigten sich, wo ich denn hin wolle. Als ich es ihnen erklärte, meinten sie nur: „Na, da kannst du froh sein, du gerätst nicht mehr in die Scheiße wie wir.“ Helden hatte ich mir eigentlich anders vorgestellt.

Ein stolzer Deutscher

Eine Flugstunde in Sensburg ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Als ich in der Luft war, setzten Orkanböen ein. Nach einem Kampf gegen die Naturgewalten setzte ich butterweich auf. Es war herrlich, in einem Staat zu leben, der seiner Jugend so viel bieten konnte. Damals war ich sehr stolz, ein Deutscher zu sein.

Im Februar 1943 ergab sich der Rest einer halb verhungerten und ausgemergelten Armee in Stalingrad. Zu der Zeit wurde bei uns ein kleines hölzernes Ruderboot an Land getrieben. Ich organisierte den Propeller eines Segelflughilfsmotors, eine Antriebswelle fand sich auf dem Schrottplatz der Schmiede, ein alter Fahrradrahmen mit Tretlager diente dem Pedalantrieb. Ich und meine Freunde bekamen das Boot tatsächlich wieder flott. Rechtzeitig zur Badesaison kam es zum Stapellauf. Die Alten sahen uns zu und schüttelten nur die Köpfe: „Wat dee ook allet moake, de Lorbasse.“

1943 ging zu Ende. Die Order kam, dass ich mich als Luftwaffenhelfer bei der Schweren Flak in Königsberg einzufinden hätte. Ich wurde dem Geschütz Cäsar zugeteilt. Der technische Teil der Ausbildung interessierte mich besonders. Das Kanonenrohr mit den 32 Zügen und 32 Feldern, der lange Zylinder mit einem halb automatischen Schubkurbel-Fallkeilverschluss.

20. Juli 1944. Der Anschlag auf Hitler erregte die Gemüter. Bei der Wehrmacht durfte jetzt nur noch mit „Deutschem Gruß“ gegrüßt werden. Bei den Soldaten war ein Widerstand zu spüren, sie grüßten fast nicht mehr, und der Hauptmann schaute einfach weg, wie ich meinte.

Es folgte ein weiterer Lehrgang zur fliegerischen Endausbildung. Im masurischen Allenstein merkte man, die Front konnte nicht mehr weit sein. Bei den ersten Flügen hatte ich Flüchtlingsfahrzeuge auf den von Osten kommenden Straßen sehen können. Anfangs einzelne Wagen, bald endlose Trecks. Aus der Vogelperspektive hatten sie fast etwas Romantisches. Ich war 16 und fertig ausgebildet. Mein Schulleiter meinte, dass ich wahrscheinlich der jüngste Pilot im Reich sei. Ich wurde in die Kunstflugschule nach Elbing einberufen. Am Hauptbahnhof Königsberg kontrollierte die Militärpolizei meine Papiere: „Fahr nach Hause Junge, mit dem Fliegen ist’s vorbei.“ Also drückte ich wieder die Schulbank.

Flüchtlinge strömten ins Samland

1944 ging zu Ende. Flüchtlinge waren ins Samland geströmt, um mit dem Schiff zu entkommen. Auch Palmnicken war voll Frauen, Kinder und älterer Bauern aus den Grenzbezirken. Sie hatten sich im letzten Moment von ihren Höfen getrennt. Immer mehr Pferde liefen jetzt frei herum, und streunende Hunde balgten sich um Pferdekadaver an der Straße nach Dorbnicken.

Es war kalt geworden, der Schnee knirschte laut bei jeden Schritt. Eines Nachts, es mag um drei Uhr gewesen sein, wurde ich durch Schüsse geweckt. Ich sah eine Frau, die zu unserer Gartenpforte hineinlaufen wollte. Als sie mich bemerkte, kehrte sie sofort um. Es fielen Schüsse, die Frau brach zusammen. Noch halb im Schlaf nahm ich im Dunkeln eine endlose Kolonne von zerlumpten Gestalten wahr, die ständig durch Gewehrsalven vorwärtsgetrieben wurde. Ich sah, dass immer wieder einzelne Leute aus der Kolonne brachen und dann erschossen wurden. Mein Vater zerrte mich zurück ins Haus: „Das ist ein Gefangenentransport.“ Am Morgen fand ich am Zaun festgefrorene blutige Kleidungsfetzen. Es war also kein Albtraum gewesen. Palmnicken war zum Schauplatz von Massenmord geworden, die Sonne brachte es nun an den Tag. Schneefall setzte ein, und die Natur deckte ein sauberes weißes Leichentuch über das Furchtbare.

Einige Tage danach wurde ein Trupp junger Volksstürmer aufs Gemeindeamt zum Ortsgruppenleiter Friedrich bestellt. Auch ich war dabei. Wir seien für ein Sonderkommando ausgewählt. Er machte uns mit zwei SS-Männern bekannt. Die Aufgabe sei nicht so einfach. Er bot uns einen kräftigen Schluck aus seiner Schnapsflasche an und verpflichtete uns zu absolutem Stillschweigen. Es war schon dunkel. Schweigend gingen wir nach Norden, bogen in den Weg zur stillgelegten Anna-Grube ein, erreichten die verwahrlosten Gebäude. Ich bemerkte eine Gruppe von etwa 50 Frauen und Mädchen. Aufgegriffene Juden. Sie mussten sich in Zweierreihen aufstellen, und wir wurden von den SS-Männern angewiesen, sie zu eskortieren. Sechs bis acht SS-Leute gehörten dazu. Jeweils zwei Frauen wurden von zwei SS-Männern um das Gebäude geführt. Dann fielen zwei Pistolenschüsse. Das war für die nächsten beiden Henker das Zeichen, die beiden nächsten Opfer zu bringen. Ich hatte mich am Ende der Reihe postieren müssen. Mir gegenüber stand ein Schulkamerad mit seinem Gewehr und bewachte die Frauen von der anderen Seite. Eine der Frauen wandte sich in gutem Deutsch an mich mit der Bitte, zwei Plätze weiter nach vorn zu dürfen. Sie wollte zusammen mit ihrer Tochter den letzten Weg gehen. Mit tränenerstickter Stimme erfüllte ich ihren Wunsch.

Als die Reihe der Gefangenen immer kürzer wurde, erlosch auch unser Bewachungsauftrag. Wir konnten um das Gebäude gehen und die Henker bei ihrer letzten Exekution beobachten. Sie töteten mit Genickschüssen, die Opfer mussten sich niederknien. War ein Magazin leer geschossen, wechselten sie es in profihafter Manier. In mir tobte ein furchtbarer innerer Kampf. Am liebsten hätte ich die Mörder mit dem Maschinengewehr erschossen. Ich lief nach Hause, traute mich aber nicht, meinen Eltern von all dem zu erzählen.

Leichen auf dem Eis

Etwa zwei Wochen nach den Hinrichtungen habe ich ein Reitpferd eingefangen. Es war schon später Nachmittag, ich lenkte den Fuchs zum Strand. Das Eis war durch leichten Seegang aufgebrochen, und die Eisschollen wurden gegen den Strand getrieben. Zwischen den Schollen am Ufer schwammen unzählige Leichen. In der Dünung bewegten sie sich wie Schwimmer. In aller Heimlichkeit hatten diese Bestien die in der Werkshalle untergebrachten jüdischen Frauen auf das Eis hinausgetrieben und wild dazwischengeschossen, bis sie sich in Verzweiflung und Angst ins offene Wasser gestürzt hatten. Nun hatte die See ihre Leichen wieder freigegeben.

Ende Februar wurden auf Führerbefehl die Jungen des Jahrgangs 1928 ins Reichsgebiet beordert. Es herrschte ein einziges Chaos. Einige der Jungen schlugen sich auf eigene Faust durch nach Westen. Ich geriet in Danzig in ein Durchgangslager für Jugendliche, dann in ein mecklenburgisches Arbeitsdienstlager. Die Front kam immer näher. An einem Aprilmorgen 1945 passierte, was ich befürchtet hatte: Russische Soldaten rissen mich aus dem Schlaf. Von nun an war ich Kriegsgefangener. Es begann ein Marsch in die Ungewissheit: Stargard in Pommern, Insterburg, Gumbinnen, Kaunas, Wilna, Minsk, schließlich Segesha am Weißmeerkanal. Die nächsten Jahre sollte ich in einem Lager neben einer Zellulosefabrik im Herzen Kareliens verbringen.

Es waren keine schlechten Jahre. Die Russen behandelten mich fast immer anständig. Und ich galt wegen meines technischen Verständnisses bald als Spezialist für alle Arten von Maschinen. Irgendwann begegnete ich Maruschja, einer Vorarbeiterin. Ich verliebte mich in sie, und sie verliebte sich in mich. Doch uns war nur eine kurze Zeit vergönnt. Kaum, dass wir uns kennengelernt hatten, sollte ich aus der Gefangenschaft entlassen werden. Ich wollte nicht weg. Ich sagte dem Brigadeführer, ein anderer solle für mich gehen. „Befehl ist Befehl.“ Ich sagte Maruschja, dass ich nicht gehen wolle. „Martin, du musst nach Deutschland, wir wollen immer an uns denken.“ Der Krieg war endlich aus für mich. Aber ich weinte beim Abschied. Und ich hatte das Gefühl, etwas zu verlieren.