Reportage: Robin Szuttor (szu)

Etwa zwei Wochen nach den Hinrichtungen habe ich ein Reitpferd eingefangen. Es war schon später Nachmittag, ich lenkte den Fuchs zum Strand. Das Eis war durch leichten Seegang aufgebrochen, und die Eisschollen wurden gegen den Strand getrieben. Zwischen den Schollen am Ufer schwammen unzählige Leichen. In der Dünung bewegten sie sich wie Schwimmer. In aller Heimlichkeit hatten diese Bestien die in der Werkshalle untergebrachten jüdischen Frauen auf das Eis hinausgetrieben und wild dazwischengeschossen, bis sie sich in Verzweiflung und Angst ins offene Wasser gestürzt hatten. Nun hatte die See ihre Leichen wieder freigegeben.

 

Ende Februar wurden auf Führerbefehl die Jungen des Jahrgangs 1928 ins Reichsgebiet beordert. Es herrschte ein einziges Chaos. Einige der Jungen schlugen sich auf eigene Faust durch nach Westen. Ich geriet in Danzig in ein Durchgangslager für Jugendliche, dann in ein mecklenburgisches Arbeitsdienstlager. Die Front kam immer näher. An einem Aprilmorgen 1945 passierte, was ich befürchtet hatte: Russische Soldaten rissen mich aus dem Schlaf. Von nun an war ich Kriegsgefangener. Es begann ein Marsch in die Ungewissheit: Stargard in Pommern, Insterburg, Gumbinnen, Kaunas, Wilna, Minsk, schließlich Segesha am Weißmeerkanal. Die nächsten Jahre sollte ich in einem Lager neben einer Zellulosefabrik im Herzen Kareliens verbringen.

Es waren keine schlechten Jahre. Die Russen behandelten mich fast immer anständig. Und ich galt wegen meines technischen Verständnisses bald als Spezialist für alle Arten von Maschinen. Irgendwann begegnete ich Maruschja, einer Vorarbeiterin. Ich verliebte mich in sie, und sie verliebte sich in mich. Doch uns war nur eine kurze Zeit vergönnt. Kaum, dass wir uns kennengelernt hatten, sollte ich aus der Gefangenschaft entlassen werden. Ich wollte nicht weg. Ich sagte dem Brigadeführer, ein anderer solle für mich gehen. „Befehl ist Befehl.“ Ich sagte Maruschja, dass ich nicht gehen wolle. „Martin, du musst nach Deutschland, wir wollen immer an uns denken.“ Der Krieg war endlich aus für mich. Aber ich weinte beim Abschied. Und ich hatte das Gefühl, etwas zu verlieren.