Nur wenige Brasilianer wissen, warum die Armenviertel in ihrem Land „Favelas“ genannt werden. Entlassene Soldaten hatten das erste informelle Wohnquartier in Rio de Janeiro nach einem stacheligen Busch aus dem trockenen Nordosten Brasiliens benannt.

Cipó, Brasilien - Eigentlich ist er an diesem Ort ein Schmarotzer, dieser Busch. „Jetzt, in der Trockenzeit, trägt er bloß Blätter, weil seine Wurzeln etwas von dem Wasser unserer Pumpe abkriegen“, sagt José Lindomar. Und nur das Wasser, das aus 50, 60 Meter Tiefe heraufkommt, lässt das Rechteck ergrünen, auf dem Lindomar und seine Nachbarn ein bisschen Gemüse, aber vor allem Futter für die Ziegen und Schafe anbauen. Ringsherum ist alle Natur grau, so wie in Deutschland im Februar. Bloß dass es hier im Sertão, der halbwüstenartigen Stelle in Nordostbrasilien, 40 Grad wärmer ist als im Februar in Deutschland.

 

42 Familien leben in Cipó, dieser Landgemeinde eine Stunde Autofahrt entfernt vom nächstgelegenen ganzjährig Wasser führenden Fluss. Jede Familie hat ein kleines Stück Privatbesitz, aber das meiste der über 1200 Hektar ist Gemeindeland. An die 3500 Ziegen und Schafe halten sie zurzeit, die Marktpreise sind stabil und hoch. Von den großen Bewässerungsprojekten der Regierung haben sie gar keine gute Meinung: „Das kennen wir doch“, winkt ein anderer Bauer von Cipó ab, „zuerst heißt es, das Projekt ist für die Kleinen, und später kaufen die Großfarmer das Land auf!“

Sie vertrauen lieber auf sich und passen sich der Umwelt an. Mit ein paar Krediten, etwas Unterweisung und einem bisschen Technik – den Pumpen und einem Silagehäcksler – sind sie ganz gut durch die dreijährige Dürrezeit gekommen, die genauso zum Sertão gehört wie der vier, fünf Meter hohe Busch, der in Lindomars Garten das Wasser schmarotzt.

Die Stacheln der Favela reißen schmerzhafte Wunden

Jatropha phyllacantha nennen ihn die Biologen, ein Wolfsmilchgewächs, dessen von einem stacheligen Gehäuse umgebene Frucht Ähnlichkeit mit einer Saubohne hat. Die heißt auf Portugiesisch „fava“, und deshalb nennt der Volksmund den Busch „favela“. Also genauso wie die Favelas, die informellen Siedlungen der brasilianischen Großstädte. Und auch wenn es selbst den meisten Brasilianern nicht mehr bewusst ist: das ist kein Zufall. Die Favelas verdanken ihren Namen dem Busch.

José zupft vorsichtig ein grünes ledriges Blatt ab. Nahe dem Stiel ragen ein paar harte Stacheln auf. Und diese Stacheln erzeugen, wenn sie sich ins Fleisch bohren, schmerzhafte Wunden, die sich entzünden. Die Soldaten, die die Regierung 1896/97 in den Sertão schickte, wussten das nicht. Sie kannten die tropischen Regenwälder und deren Widernisse, aber nicht die Tücken der Pflanzenwelt im Sertão. Ein Militärputsch hatte 1889 dem Kaiserreich ein Ende gesetzt und die Republik eingeführt. Als sieben Jahre später im Norden des Bundesstaates Bahia der Prediger Antônio Vicente Mendes Maciel auftrat, die Menschen hinter sich scharte und aus der Stadt Canudos eine Art Wallfahrtsort machte, verstand man das im Süden, in der Hauptstadt Rio de Janeiro, als Umsturz – als Versuch, die Monarchie wiedereinzuführen.

Der Prediger verhieß seinen Anhängern – entlassene Sklaven, verarmte Landarbeiter, Opfer der Dürren – die Erlösung ihrer irdischen Nöte. Diesen sozialreligiösen Charakter der Massenbewegung von Canudos erkannte die Regierung nicht, oder sie wollte ihn nicht sehen – jedenfalls schickte sie Soldaten. Gegen drei Feldzüge setzten sich die Jünger des Ratgebers erfolgreich zur Wehr. Erst im vierten, im September 1897, siegte die Armee – sofern man das Gemetzel als Sieg bezeichnen mag. Insgesamt 20 000 Anhänger des Ratgebers, so schätzen die Historiker, kamen damals um – Männer, Frauen, Kinder wurden unterschiedslos getötet. Selbst den Gefangenen schnitten die Soldaten die Kehle durch. Auch 5000 Soldaten ließen das Leben.

Soldaten wurden in provisorischen Hütten untergebracht

Kaum war das Gemetzel vorbei, dämmerte es der Regierung und der Gesellschaft in der Hauptstadt, was sie von den Soldaten hatte anrichten lassen. 1902 erschien das Buch „Os Sertões“ des Militäringenieurs und Journalisten Euclides da Cunha, eines der großen Werke der brasilianischen Literatur. Da Cunhas Urteil über den Canudos-Krieg fiel vernichtend aus: ein Verbrechen, schrieb er klipp und klar.

Als die Regierung Helden brauchte, hatte sie ihren Soldaten Wohnraum als Belohnung für den Sieg versprochen, wovon bald nicht mehr die Rede war. Um den Druck zu erhöhen, siedelten sich die entlassenen Soldaten, die niemand mehr hochleben lassen wollte, in provisorischen Hütten auf einem felsigen Hügel unweit des Kriegsministeriums in Rio de Janeiro an. Morro da Providência, Hügel der Vorsehung, so heißt er bis heute. Aber die Veteranen nannten ihn „Morro da Favela“, in Erinnerung an eine von stacheligen Favela-Büschen bestandene Höhe vor Canudos. Es war die erste große Elendssiedlung, schon 1905 wegen ihrer Gewalt berüchtigt.

Und warum lässt José Lindomar den Schmarotzer stehen, wo er doch mitten in der Trockenzeit Wasser absaugt? Der Favela-Busch ist im Sertão kein Schädling. Wenn seine ledrigen Blätter abfallen, verlieren die Stacheln ihre Stacheligkeit. Dann stürzen sich die Ziegen, die von einem Favela-Busch nie die Blätter abfressen würden, auf das Laub am Boden – und das darin gespeicherte Wasser.