Die Eltern von Alexander Müller galten in der DDR als Staatsfeinde. Deshalb wurde der Junge in Spezialkinderheimen und Jugendhöfen erzogen. Am Sindelfinger Gymnasium Unterrieden berichtete er von seinem Martyrium.

Sindelfingen - Alexander Müller war elf Jahre alt, als ihn die Stasi auf der Straße kidnappte und in ein Kinderheim – drei Autostunden entfernt von seinem Zuhause – brachte. Der Grund: seine Eltern wollten sich nicht dem sozialistischen System anpassen. Seine Mutter schrieb politisch unliebsame Bemerkungen an die Wandzeitung in ihrem Betrieb. Deshalb entzog man ihr die drei Kinder, steckte sie in Heime. Anfangs versuchte Müller, sich anzupassen. Als er in die Pubertät kam, bekam er immer öfter Schwierigkeiten mit den repressiven Erziehern. Mit 14 habe man ihn deshalb „zwangsentschult“. In einem Jugendhof musste eine Lehre als Teilfacharbeiter in der Schlosserei machen: „Das war eine Ausbildung auf Hilfsarbeiterniveau. Keiner hat gefragt, ob ich das machen will“, erzählte Müller am Donnerstag Schülern des Unterrieden-Gymnasiums.

 

„Ich gehöre nicht hierher. Ich muss raus“, sagt er sich damals. Diese Idee trieb den Jungen immer wieder zur Flucht. „Doch wohin sollte man in der DDR? Irgendwann wurde man wieder geschnappt.“ Nach der dritten Flucht war es dann soweit: Alexander Müller kam nach Torgau, völlig ahnungslos, was ihn dort erwartete. „Zur Begrüßung mussten wir uns nackt ausziehen. Alle Köperöffnungen wurden untersucht, wir wurden kahl geschoren“, beschreibt Müller die Prozedur.

Prügel, Essensentzug und Zwangsarbeit

Dann ging es für drei Tage in die Arrestzelle. Anschließend mussten die Jugendlichen Zwangsarbeit leisten – acht Stunden am Tag im Akkord. „Nach der Arbeit gab es täglich Zwangssport auf dem Hof. Auch für Kranke gab es keine Ausnahme.“ Kleinste Vergehen gegen die Hausordnung wurden mit Prügel, Essensentzug oder Arrest in der Dunkelzelle bestraft. „Viele, die das mitgemacht haben, sind heute krank. Sie leiden an Angina Pectoris, Rückenbeschwerden, haben ein vergrößertes Herz“, berichtet Andreas Müller. Ganz zu schweigen von den psychischen Folgen.

„Torgau war die letzte Station des Erziehungssystem der DDR“, sagte Manuela Rummel. Sie ist Mitarbeiterin der Gedenkstätte Geschlossener Jugendwerkhof Torgau. Zusammen mit Alexander Müller berichtete den Gymnasiasten von einer der dunkelsten Seiten der DDR. Die Neuntklässler, die alle Jahre nach der Wende 1989 geboren sind, haben sich in den vergangenen Monaten mit dem Thema DDR beschäftigt. Dazu gehörte auch eine Auseinandersetzung mit dem sozialistischen Erziehungssystem. Dazu hatten sie Müller und Rummel eingeladen.

Ein Netz von Kinderheimen und Jugendhöfen habe die DDR durchzogen, sagte Rummel. „Dort wurden bereits Vierjährige untergebracht, wenn die Eltern als politisch unzuverlässig galten.“ Jugendliche, die in den Heimen gegen die Regeln verstießen, kamen zur Strafe nach Torgau. Das Ziel dort: den Willen der Jugendlichen zu brechen. 4000 Jugendliche sind dort von 1964 bis zum Mauerfall 1989 gequält worden. Es war ein Gefängnis für Jungen und Mädchen zwischen 14 und 18 Jahren, deren Vergehen darin bestanden, dass sie in der Schule aufmüpfig waren oder politisch unpassende Bemerkungen gemacht hatten.

Die meisten früheren Heimkinder sind heute krank

Zur Stadt Torgau hat Sindelfingen eine besondere Beziehung. Noch zur DDR-Zeit schlossen die Städte eine Partnerschaft. Als eine Sindelfinger Delegation 1988 für die Unterzeichnung des Vertrags nach Torgau reiste, erhielt sie einen kleinen Eindruck vom Leben in dem repressiven Staat. Doch von dem, was sich wenige Kilometer entfernt hinter den Mauern des Jugendhofwerks Torgau abspielte, dürfte wohl keiner eine Ahnung gehabt haben.

Fast flapsig erzählt Müller den 150 Jugendlichen von seinem Leidensweg. Es ist seine Art, sich emotionale Distanz zu verschaffen. Wie sehr ihn diese Jahre geprägt haben, erzählte er erst auf Nachfrage: „Ich leide bis heute an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Wenn ich zum Beispiel ein bestimmtes Bohnerwachs rieche, das mich an die Zeit in Torgau erinnert, bekomme ich Herzrasen und Schweißausbrüche.“

Seit Jahren ist der 45-Jährige arbeitsunfähig. „So wie mir ergeht es den meisten ehemaligen Insassen. Sie sind Rentner oder leben von Hartz IV.“ Was Müller richtig erbost: „Die Erzieher von damals, die haben alle nach der Wende weitergearbeitet. Einige waren sogar Chefs von sozialen Organisationen und Jugendämtern.“